Die Erben der Nacht 04 Dracas
einhieb. Sie schlug sich zwar wesentlich besser als Chiara, bekam aber dennoch einige so böse Schläge ab, dass sie am Kopf heftig blutete. Chiaras Wunden der vorherigen Nacht waren noch nicht verheilt, und so hatte sie die Zeit bis zum Unterricht mit kalten Umschlägen im Bett verbracht. Fast so empörend wie Karl Philipps brutales Auftreten fand Alisa, dass die Fechtlehrer nicht eingriffen und ihn zur Raison brachten. Es war Franz Leopold, der schließlich auf seinen Vetter zustürmte und ihn anherrschte. Er drohte ihm ganz offen, ihm jeden Hieb auf gleiche Weise zurückzugeben, den er an seine schwächeren Gegner austeilte.
»Das würdest du nicht wagen!«
»Ach nein? Und warum nicht? Dich stecke ich allemal in die Tasche. Die Einzige, die es hier mit meinen Fechtkünsten aufzunehmen vermag, ist Anna Christina. Und glaube nicht, dass sie sich auf deine Seite stellen würde.«
Zur Bekräftigung seiner Worte versetzte Franz Leopold seinem Vetter einen schmerzhaften Stich in die Schulter. Auch diese Auseinandersetzung nahmen die Fechtlehrer kommentarlos hin. Sie ließen ihre Schützlinge noch ein paar Runden austragen, dann sammelten sie die Schwerter ein und schickten die Erben in ihre Schlafkammern, um sich umkleiden zu lassen.
»Was? Wozu das denn? Ist doch bequem so«, merkte Fernand an und handelte sich damit einen verächtlichen Blick von Marie Luise ein.
»Ihr Pyras werdet nie begreifen, worauf es ankommt«, schnappte sie und rauschte zu ihrem eigenen Gemach davon.
»Und worauf kommt es deiner Meinung nach an?«, rief er ihr
nach, erhielt aber keine Antwort. Achselzuckend wandte er sich seinem jungen Hamburger Freund zu.
»Was kommt denn jetzt?«, fragte Tammo, als er die Kammermädchen mit Fräcken in den Armen die Treppe hinaufsteigen sah.
»Nun beginnt der Tanzunterricht«, klärte ihn Franz Leopold auf.
»Tanzunterricht?«, stießen Tammo und Fernand gleichermaßen entsetzt aus. »Nein! Muss das wirklich sein?«
Franz Leopold feixte. »Aber ja. Strengt euch an. Wir werden in einigen Wochen, wenn die offizielle Ballsaison beginnt, bei Hof erscheinen. Ihr wollt euch doch nicht vor dem Kaiserpaar und all den hoffähigen Familien blamieren?«
»Wir auf einem Hofball? Du nimmst uns auf den Arm«, vermutete Tammo, Fernand dagegen blieb gleichgültig. »Und wenn schon. Ich tanze nicht, da kann ich mich auch nicht blamieren.«
Franz Leopold sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen von oben bis unten an. Sein Mund war nur noch ein schmaler Strich. »Nein? Wirklich nicht? Hast du eine Ahnung!«
Die Kammermädchen mit den Fräcken unterbrachen das Geplänkel und dirigierten jeden ihrer Schützlinge in seine eigene Kammer.
»Tanzen!«, stieß Tammo noch ein letztes Mal mit so viel Abscheu aus, als könne er sich nichts Grässlicheres vorstellen.
Teils voller Vorfreude, teils ziemlich unwillig, aber allesamt neugierig, kehrten die Erben in ihren frischen Gewändern in die Beletage zurück und betraten den von zahllosen Kerzen erhellten Ballsaal. Den Tanzunterricht würde eine Altehrwürdige geben. Einigen der Erben war sie von ihrer Begrüßung in der Galerie her noch schmerzlich im Gedächtnis! Mit einem langen Stab in den Händen stand sie hochaufgerichtet in der Mitte des Raumes und beobachtete die Ankunft ihrer Schützlinge mit stechendem Blick. Wie alle Dracas war sie groß, aber eher hager. Das weiße Haar war so streng zurückgekämmt, dass es ihre Wangenhaut zu straffen schien. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, was ihre strenge Miene noch betonte.
»Bei der haben wir sicher nichts zu lachen«, vermutete Joanne. Ihr Bruder nickte zustimmend.
»Ja, das wird kein Spaß. Da wäre mir eine weitere Lektion mit dem Schwert lieber.«
Tammo nickte zustimmend und setzte eine tragische Miene auf, sodass seine Schwester ihm lachend in den Arm knuffte.
»Pass auf. Das wird gar nicht so schlecht. Wenn du es gut machst, darfst du später einen Walzer mit mir tanzen.«
»Soll mich das jetzt aufheitern?«, erkundigte sich Tammo mürrisch.
Die Altehrwürdige hieß Konstanze. Am Flügel in der Ecke saß ein Dracas undefinierbaren Alters, der sich als Ludwig vorstellte und danach kein Wort mehr sprach. Nur seine Hände huschten emsig über die Tasten, sobald die Tanzmeisterin den Befehl dazu gab. So schön seine Musik in vollen Harmonien aus dem halb geöffneten Flügel erklang, so unangenehm kalt war Konstanzes Stimme.
Die Erben mussten sich in zwei Reihen aufstellen. Wie ein Feldwebel seine Truppen
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