Die Erben der Nacht 04 Dracas
ein Spaß, doch Franz Leopold ließ sich nichts anmerken. Mit unbeweglicher Miene trat er auf die Tanzmeisterin zu, verbeugte sich mit einer Eleganz, die Alisa nicht für möglich gehalten hatte, und reichte ihr dann seine Hand. Die altehrwürdige Dracas versank in einen tiefen Knicks. Anmutig bewegen konnte sie sich noch, trotz ihres Alters, das musste Alisa zugeben.
»Wir beginnen mit den Grundfiguren der am häufigsten gespielten Kontertänze. Es gibt sie in den Variationen der Quadrille, der Anglaise und der Ecossaise. Sie werden grundsätzlich in Reihen oder anderen Gruppenaufteilungen getanzt. Bei einer contredanse anglaise stehen sich Herren und Damen gegenüber. Bei der contredanse française nimmt der Herr neben seiner Dame so Aufstellung, dass vier Paare ein Quadrat bilden. Musik bitte!«
Sie führte mit Franz Leopold einige Figuren vor, bei denen sich das Paar trennte und sich wieder traf, sich voreinander verbeugte, umeinander herumschritt, sich drehte, die Position wechselte. Wobei Alisa ein Rätsel war, woran der Herr oder die Dame erkennen konnte, was als Nächstes kam. Die Musik war eher langsam und
klang höfisch verspielt. Die Bewegungen der beiden Tänzer waren übertrieben grazil, ja fast ein wenig affektiert.
»Das kommt Franz Leopold ja entgegen«, meinte Luciano. »Aber ich finde es langweilig. Ich dachte, gerade in Wien tanzt man diese altmodischen Sachen nicht mehr. Ich weiß, dass man schon auf dem Wiener Kongress seinen Arm um die Mitte der Dame legen und sie im Walzertakt drehen durfte!«
Die Musik verklang und Stille senkte sich über den Tanzsaal. Konstanze sah Luciano eindringlich an, bis er den Blick senkte. Hatte sie seine Worte gehört oder in seinen Gedanken gelesen? Alisa erwartete, dass sie ihn scharf zurechtweisen würde, doch sie fuhr einfach in ihren Erklärungen fort.
»Diese und andere Tänze wurden und werden noch bei Hof und auch bei den Hausbällen der großen Familien getanzt. Weitaus häufiger sind inzwischen jedoch die Tänze, bei denen sich jedes Paar unabhängig von den anderen durch den Saal bewegt. Meist in schnellerem Rhythmus als bei den Kontertänzen. Wobei auch die Ecossaise durchaus lebhaft ist. Aber zurück zu den Paartänzen. Im Dreiertakt gibt es den berühmten Walzer, in einem schnellen Zweiertakt den Galopp!«
Als wäre dies sein Stichwort gewesen, ließ Ludwig die Finger auf die Tasten fallen. Der vermutlich wie viele Walzermelodien aus der Feder von Johann Strauss stammende Galopp war so mitreißend, dass die Erben nicht stillstehen konnten. Alisa sah, wie Franz Leopold die Rechte der Altehrwürdigen ergriff und ihr seine andere Hand an die Taille legte. Dann begann er sie in schnellen Schritten und Drehungen rund um den Saal zu wirbeln. Nicht nur der junge Dracas machte dabei eine gute Figur. Auch die Altehrwürdige ließ fast ihr Alter vergessen, so harmonisch sprangen und drehten sich die beiden ungleichen Partner zum Takt der Musik.
»Das gefällt mir schon viel besser«, strahlte Joanne und sprang im Takt von einem Bein auf das andere.
Als das Paar wieder an seiner Ausgangsposition ankam, brach die Musik ab. Konstanze sah in die veränderten Gesichter. Begeisterung hatte die Langeweile abgelöst. Sie verzog die schmalen Lippen kurz zu so etwas wie einem Lächeln.
»Und nun zum König der Tänze. Es ist vielleicht der einzige Punkt, in dem sich alle Wiener einig sind, von den schmutzigen Arbeitern in den Vororten über die kleinen Handwerker und Beamten bis zu den reichen Geldbaronen und gar den hoffähigen Adelsfamilien: Der Walzer ist der König! Aus dem Deutschen entstanden, war es zuerst eine wüste, wild gesprungene Dreherei, die nur dem einfachen Volk anstand. Daraus wurde dann der Langaus, bei dem die Paare hintereinander aufgereiht Runde um Runde drehten, bis der ein oder andere mit Schlagfluss erschöpft am Boden liegen blieb.« Sie zeigte kurz ihre Zähne. »Die Menschen neigen dazu, ihre Kräfte zu überschätzen. Jedenfalls wurde der Langaus aus gesundheitlichen Gründen untersagt. Das Drehen wurde ruhiger und die Paare lösten sich aus der gemeinschaftlichen Formation. Der Walzer war geboren. Die beiden Komponisten Lanner und Strauss - Vater des heute verehrten Komponisten - schufen einen Walzer nach dem anderen und verwandelten Wien zur Faschingszeit in ein Tollhaus. Von den Redoutensälen in der Hofburg bis zu den Weinschänken draußen vor dem Linienwall wurde überall nur noch Walzer getanzt. Und das wollen wir jetzt auch
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