Die Erben der Nacht 04 Dracas
inspiziert, schritt die Tanzmeisterin an ihnen vorbei und stieß ihren Stock bei jedem Schritt mit einem lauten Klacken auf den mit wunderschönen Ornamenten versehenen Parkettboden. Vor dem ein oder anderen Erben blieb sie stehen, richtete eine Masche gerade, schnippte ein Stäubchen von der Frackjacke oder arrangierte die Spitzen um ein Dekolleté. Vor Fernand und Joanne blieb sie am längsten stehen, rührte sie aber nicht an, sondern verzog lediglich ihr Gesicht zu einem Ausdruck größter Missbilligung.
Ganz unrecht hatte sie nicht, musste Alisa ihr zugestehen. Auch die Pyras hatten wie alle anderen Erben neue Kleider erhalten, doch irgendwie hatten sie es geschafft, schon wieder schmuddelig auszusehen. Aus Joannes Frisur hatten sich einige Strähnen gelöst und standen widerspenstig nach allen Seiten und ihre weiße Rüsche wirkte an einigen Stellen grau. Fernands Kragen war ebenfalls beschmutzt und in der kurzen Zeit war es ihm gelungen, sich die Frackschöße aufzureißen. Außerdem zierte ein Rußfleck seinen Hals.
Konstanze schritt bis zum Ende der Reihen, blieb vor Ivy stehen und starrte sie einige Augenblicke an, dann drehte sie sich mit einem Ruck um.
»Ha, sieh dir die Lycana an«, hörte Alisa Marie Luise sagen. »Sie sieht in diesem Gewand wie ein verkleidetes Kind aus. Einfach nur lächerlich!«
Alisa spürte, wie es ihr vor Sorge ganz kalt wurde. Nicht dass die Dracas damit recht hatte, aber dass Ivy deutlich jünger wirkte, als sie sein müsste, war unbestritten. Solch unbedachte Bemerkungen konnten andere durchaus auf Gedanken bringen, die in eine gefährliche Richtung führten.
Ivy drückte ihr unauffällig die Hand. Mach dir keine Sorgen. Denke einfach nicht daran. Behalte stets im Gedächtnis, dass in diesem Haus auch sorgenvolle Gedanken gefährlich sind! Je weniger wir uns damit befassen, desto besser.
Natürlich hatte sie recht, aber es war gar nicht so einfach, nicht an etwas zu denken. Alisa heftete ihren Blick auf die alte Tanzmeisterin und konzentrierte sich auf deren faltiges Gesicht, die streng zusammengepressten Lippen und das weiße Haar, das so fest zusammengesteckt war, dass sich vermutlich niemals wieder eine Strähne lösen würde.
Zweimal stieß die Tanzmeisterin ihren Stock auf den Boden, bis sie sich der Aufmerksamkeit aller Erben sicher sein konnte.
»Die hohe Kunst des Tanzes bedeutet nicht nur, sich zu Klängen der Musik zu bewegen. Dem einfachen Volk ist es ein harmloses Vergnügen, ein Gehopse und ein Ringelreihen, das in Weinlaune überschüssige Kraft reguliert und den Trieben von Männern und Frauen entgegenkommt. In unserer Gesellschaftsschicht ist Tanzen viel mehr. Es gibt eine Vielzahl von Schritten und Figuren, die exakt und mit Anmut ausgeführt werden müssen. Wie ich schon sagte, der Tanz ist eine Kunst. Er unterliegt ebenso den feinen Regeln des ständigen Werbens zwischen den Geschlechtern und muss der hohen Diplomatie genügen. Damals auf dem Wiener Kongress wurde mehr Politik auf dem Parkett betrieben als in den Konferenzsälen. Könige, Fürsten und Generäle, ja selbst der Zar mit seinem Gefolge trafen sich in Wien, um nach Napoleons Sturz Europa neu aufzuteilen. Es war nicht nur der Diplomat Fürst Metternich, der die Einigung herbeiführte. Ohne die vielen Damen, die Hofbälle und Redouten zu einem Erlebnis für die hohen Herren machten,
wären keine Ergebnisse erzielt worden. Es waren Damen von altem Adel, intelligent und mit den Schwierigkeiten der Politik vertraut, und natürlich auch Frauen, die in Metternichs Diensten standen und ihm getreulich berichteten, was auf der Tanzfläche und später in den Separees gesprochen wurde. Aber zurück zum Tanz und zu einer guten Konversation, die nahtlos in Diplomatie übergeht - sei sie nun von politischem Wert oder um die Familiendynastie zu stärken. Denn darum dreht sich das Spiel der Gesellschaft. Reichtum, Macht, ein guter, alter Name. Dafür werden Verbindungen geknüpft. Dafür werden Söhne und Töchter verheiratet.«
Alisa sah, wie Tammo eine Geste machte, als müsse er sich übergeben. Sie selbst fand den Vortrag auch ein wenig unpassend. Sie wollten doch einfach nur tanzen lernen!
»Beginnen wir mit einer kleinen Demonstration.« Sie ließ ihren Blick an der Reihe der Vampire entlanggleiten, bis er an Franz Leopold hängen blieb. Die von einem schwarzen Spitzenhandschuh umhüllte knochige Hand machte eine auffordernde Geste. Alisa hatte fast ein wenig Mitleid mit ihm. Das war nicht gerade
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