Die Erben der Nacht 04 Dracas
löste.
»Ah, da ist ja unser verlorenes Schaf«, erklang Franz Leopolds Stimme hinter ihm. Luciano durchfuhr es heiß vor Schreck. Der beißende Spott des Dracas hatte ihm gerade noch gefehlt. Er warf einen hilfesuchenden Blick zu Alisa und Ivy. Konnten sie Franz Leopold nicht einfach davonzerren? Doch davon hielten die Vampirinnen anscheinend nichts. Nein, es sollte wohl eine Konversation zu sechst werden. Schweren Herzens übernahm Luciano die gegenseitige Vorstellung. Zu seiner Überraschung gönnte Ludwig von Todesco Ivy nur einen flüchtigen Blick, schien aber nicht abgeneigt, sich mit Alisa zu unterhalten. Und das lag sicher nicht nur daran, dass sie Feuer und Flamme war, als sie hörte, die Bankiersfamilie sei im Eisenbahngeschäft. Seltsam. Ja, Alisa hatte sich gemacht und sah in dem fast ein wenig schlicht gehaltenen Seidenkleid richtig elegant aus. Trotzdem, Ivy war von geradezu magischer Schönheit, einer Elfe gleich in ihrem weißen Kleid mit dem silbernen Haar. Was konnte dieser Mann an Alisa finden, wenn Ivy direkt neben ihr stand?
Warum findest du das seltsam, Luciano? Ivys Gedanken erklangen in seinem Kopf. Sieh mich nur für einen Moment mit seinen Augen. Den Augen eines erwachsenen Mannes.
Luciano ließ den Blick über die drei Mädchen schweifen und ihm wurde schmerzlich bewusst, was Ivy meinte. So überirdisch schön sie auch war, sie musste allen wie ein Kind erscheinen, das in Begleitung
der beinahe erwachsenen Freunde die Oper besuchte. Wie lange würde es noch dauern, bis die Dracas sie mit diesem klaren Blick betrachteten?
Hoffentlich noch lange!
So hielt sich Ivy ein wenig im Hintergrund, während Alisa sich angeregt über die neusten Lokomotiven unterhielt, wobei Luciano den Eindruck gewann, dass sie über die technischen Details besser Bescheid wusste als der zukünftige Eisenbahndirektor.
Vielleicht hatte er sich einen Moment zu lange von den Gedanken über Ivy und Alisa ablenken lassen. Jedenfalls ließ Franz Leopold die Chance nicht ungenutzt verstreichen und machte sich mit seiner elegantesten Referenz und seinem betörenden Lächeln an Clarissa heran. Luciano begriff voller Verzweiflung, so ätzend Franz Leopold sich meistens verhielt, er war von blendender Schönheit und er beherrschte das gesellschaftliche Spiel sicher besser als Luciano. Außerdem wusste er sehr wohl um seinen Charme und wie er ihn gezielt einsetzen konnte. Sie würde sich in den Fängen des Dracas verstricken. Nein, von nun an würde Clarissa dem Nosferas wohl keinen Blick mehr gönnen. Er wunderte sich selbst über die Tiefe des Schmerzes und über den Hass, der gegen den Dracas aufloderte. Sie war doch nur ein Menschenmädchen mit einem lieblichen Gesicht, das er schon morgen vergessen haben würde.
Clarissa vergessen? Niemals!
»Das ist sehr interessant«, hörte er das Mädchen eben sagen, doch ihre Stimme klang eher angespannt denn verzaubert. »Ich war leider noch nicht in Rom. Es muss eine wundervolle Stadt sein. Luciano, wo lebt Ihre Familie? Wollen Sie mir nicht von den Schönheiten der ewigen Stadt erzählen?« Sie rückte ein wenig von Franz Leopold ab und sah Luciano eindringlich, ja fast bittend an.
Er blinzelte verwirrt. War das möglich? Es schien fast so, als würde dieses wundervolle Mädchen den kleinen, dicken, tollpatschigen Nosferas dem schönsten aller jungen Vampire vorziehen.
Wenn du ein Mensch wärst, dann würde ich dich fragen, ob du in letzter Zeit einmal in den Spiegel gesehen hast! Ivys Stimme klang amüsiert. Luciano, klein, dick und tollpatschig gehört der Vergangenheit an! Nein, ich wundere mich nicht über Clarissas Wahl. Und dennoch sollten wir
uns jetzt verabschieden. Du weißt, es ist ein gefährliches Spiel, bei dem ihr euch beide leicht verbrennen könnt. Lass sie gehen und gib dich mit der Erinnerung an diesen Moment zufrieden.
Der Gong, der die Besucher zum nächsten Akt rief, entschied die Sache. Man verabschiedete sich höflich voneinander und wünschte noch einen schönen Opernabend. Clarissa schenkte Luciano einen bezaubernden Augenaufschlag und berührte verstohlen seine Hand, als sie sich abwandte, um sich von ihrem Bruder in ihre Loge zurückführen zu lassen.
Ivy hakte sich bei Luciano unter. »Komm, wir wollen doch nicht die weiteren Abenteuer unseres Frauenhelden Don Giovanni versäumen. Nein, sage jetzt nicht, dass dich das nicht interessiert, denn das wäre eine kindische Reaktion. Mit starken Gefühlen umzugehen und sich nicht von ihnen
Weitere Kostenlose Bücher