Die Erben der Nacht 04 Dracas
Wolf der Lycana wäre vielleicht ein noch besserer Sündenbock! Nun musste sie es nur noch schlau anfangen, um ihren Bruder davon zu überzeugen. Sie konnte ein triumphierendes Lächeln nicht unterdrücken. Es würde dem Meister gefallen, wenn der Werwolf, der ständig um die Lycana herumschwänzelte, aus dem Weg wäre.
Der Abend fing nicht gut an. Es begann damit, dass Ivy in einem Korridor fast mit Marie Luise zusammenstieß. Das Mädchen keifte, wie zu erwarten, und klagte, dass sie durch Ivys Ungeschick vielleicht ihr neues Kleid ruiniert habe. Ivy hörte sich die Schimpftirade schweigend an, bis sich Marie Luise wieder beruhigt hatte und ihre hochmütige Miene aufsetzte.
»In Zukunft bitte ich um mehr Respekt! Und nun geh mir aus den Augen, Kind!«
Unvermittelt stutzte sie. Vielleicht fiel ihr das Wort Kind erst auf, als sie es aussprach. Ivy konnte dem Gang ihrer Gedanken folgen und las das Erstaunen, als sie sich darüber im Klaren wurde, was sie sah.
Sag was! Lenk sie von diesem Einfall ab, sonst führt er uns geradewegs in die Katastrophe!, drängte Seymour.
Ivy knickste und senkte scheinbar demütig das Haupt. »Entschuldige, es wird nicht mehr vorkommen.« Fluchtartig zog sie sich zurück.
Der Wolf folgte ihr. Na, das war ja eine raffinierte Reaktion!, schimpfte er in ihrem Geist. Darauf wäre ich nie gekommen. Nun hat sie den Gedanken sicher vergessen und wird in Zukunft keine so gefährlichen Einfälle mehr haben.
Ivy hielt inne und funkelte ihn an. »Ach, und was hätte ich deiner Meinung nach sagen sollen? Dass irische Vampirinnen alle klein und mädchenhaft bleiben? Dass das völlig normal ist?«
Zum Beispiel.
»Und damit die Frage aufwerfen, warum eine kleine Lycana in ihren Gedanken lesen kann? Was die Sache ganz sicher nicht noch komplizierter gemacht hätte!« Ihr Ton war sarkastisch geworden. Seymour brummte.
Daran habe ich nicht gedacht. Ich sehe nur, dass es eng wird.
Ivy nickte nachdenklich. »Ja, das sehe ich auch. Die Schlinge zieht sich langsam aber unerbittlich zu.«
Wir sollten nach Irland zurückkehren, ehe man uns dazu zwingt. Muss ich dich daran erinnern, dass die größte Gefahr nicht von den Dracas ausgeht?
Ivy unterdrückte einen Seufzer. »Nein, das musst du nicht. Auch ich kann den Schatten spüren. Sein Geist kommt näher und ich will mich gar nicht fragen, was er in Wien zu finden hofft.«
Du weißt, dass er auf der Suche nach dir ist, auch wenn mir noch immer nicht klar ist, warum er dich in die Hand zu bekommen versucht. Ivy, ich habe Angst um dich. Du weißt, dass ich bis zum letzten Atemzug für dich kämpfe, aber wir haben diesem alten Vampir und seinen Mächten
nichts mehr entgegenzusetzen. Geh! Ich flehe dich an. Bring dich in Sicherheit.
»Er wird es nicht wagen, mir hier im Haus der Dracas aufzulauern. Und ich werde ihm keine Gelegenheit geben, mich draußen alleine zu überraschen.«
Ein schwacher Trost. Wollen wir hoffen, dass diese Maßnahmen genügen, bis du endlich zur Vernunft kommst.
»Vernunft ist nicht alles. Ich war hundert Jahre lang vernünftig - und einsam. Ich bin nicht bereit, mir von irgendeinem alten Vampir die Akademie und meine Freunde nehmen zu lassen. Ich werde vorsichtig sein, das verspreche ich dir. Und nun lass uns zum Unterricht gehen. Die Deutschstunde ist heute bereits um neun Uhr angesetzt. Ich fürchte, die Dracas haben beschlossen, uns ausgiebiger zu beaufsichtigen.«
Doch weit kam Ivy nicht. Die Baronesse ließ sie rufen und teilte ihr mit, dass ihr Wolf nicht mehr frei herumlaufen dürfe. Am besten, sie würde ihn in ihrer Schlafkammer einschließen.
Ivy unterdrückte ihre Empörung und zwang sich zu einem ruhigen Ton. »Darf ich erfahren, was Euch plötzlich zu dieser Entscheidung bewogen hat?«
»Ich lese Zeitung«, erwiderte die Baronesse scharf. »Tote mit Bisswunden? Muss ich mehr sagen?«
»Und da denkt Ihr, Seymour hat diese Menschen gerissen?«, rief Ivy, die sich nicht mehr zurückhalten konnte. »So ein Unsinn! Er hat noch niemals einen Menschen angefallen, dafür verbürge ich mich.«
»Er ist eine wilde Bestie, die man einsperren muss«, widersprach die Baronesse.
Ivy atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen, um ihren Zorn zu beherrschen, ehe sie weitersprach. »Baronesse Antonia, ich kann Eure Sorge verstehen, die diese Vorfälle verursacht haben, aber Ihr werdet der Sache nicht Herr, indem Ihr Seymour wegsperrt, das garantiere ich Euch. Er war stets in meiner Nähe und ist für diese
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