Die Erben der Nacht 04 Dracas
immer die Bücher und Zeitungen, die ich nicht lesen soll.«
Luciano fragte sich, ob ihre Eltern wohl davon wussten, wie wenig ihre Taktik aufging, sie vor allem zu behüten.
»Habe ich Sie jetzt doch schockiert?«
»Auf das Tiefste, mein Fräulein! Erzählen Sie mir weiter von den Dingen, von denen sie eigentlich gar nichts wissen!«
Sie lachten beide verschwörerisch, aber Clarissa begab sich dann doch lieber auf sicheres Terrain. Sie sprach von ihrem Großvater, der in der Nähe von Padua eine Seidenraupenzucht gegründet und dann begonnen hatte, eine Baumwollgespinst- und eine Wollwarenfabrik aufzubauen, ausgestattet mit einem kaiserlich-königlichen Privileg.
»Er war ein Pionier, wenn es um die Rechte seiner Arbeiter ging. Schon damals sorgte er für sie, wenn sie krank wurden oder zu alt. Heute redet man nur über das Elend der Arbeiter, tut aber nichts dagegen, oder schweigt ganz und sieht weg. Waren Sie mal in den Vorstädten, in den Ziegeleien oder Tuchfabriken? Es ist eine Schande,
sagt Mutter, aber die meisten Unternehmer interessiert nur, was am Ende des Jahres in ihrer Schatulle übrig bleibt.«
Luciano sah sie verwundert an. Sie war nicht nur anmutig und bezaubernd, sie war klug und an mehr interessiert als an einem Stickrahmen und schönen Kleidern. Der kämpferische Blick, den sie ihm im Moment zuwarf, erinnerte ihn an Alisa.
Sie gingen weiter durch das Haus. Clarissa zeigte ihm die anderen Gäste, nannte ihm die Namen und fügte die ein oder andere boshafte Bemerkung hinzu. Luciano amüsierte sich prächtig. Die Dracas und der geschwänzte Unterricht waren für den Augenblick vergessen. So scherzten und flirteten sie, bis die Dame des Hauses das erste Musikstück ankündigte. Schwatzend nahmen die Damen und älteren Herren auf den bereitgestellten Stühlen und Kanapees Platz, während sich die wenigen jungen Männer entlang der Wand aufreihten. Luciano und Clarissa zogen sich auf die hintersten Plätze zurück, an einen kleinen Tisch mit zwei schmalen Sesseln, wo sie sich weiterhin unterhalten konnten, zumindest im Flüsterton.
Schon von draußen hörten sie die Walzerklänge. Alisa hüpfte aufgeregt an Franz Leopolds Arm auf den hübschen, im Stil der italienischen Renaissance erbauten Kursalon zu. Wie Franz Leopold erklärte, ersetzte er einen Vorgängerbau, der einst weiter im Osten auf dem Wasserglacis gestanden hatte. Auch das neue Gebäude hätte vornehmlich dem Ausschank von die Gesundheit förderndem Heilwasser und als Kaffeehaus dienen sollen. Ja, zur Zeit der Eröffnung vor dreizehn Jahren waren musikalische Vergnügungen sogar untersagt. Aber bereits ein Jahr später gab Johann Strauss dort ein erstes Konzert und die Wiener waren begeistert. Seitdem war der Kursalon ein beliebtes Tanzlokal der Gesellschaft.
Alisa hörte Franz Leopolds Ausführungen nur mit einem Ohr zu. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, auch wenn sie immer noch ein bisschen misstrauisch war, ob Franz Leopold wirklich einfach nur tanzen wollte.
Er hielt ihr die Tür auf und führte sie dann in den Saal. Ach, sie konnte ihre Füße nicht stillhalten. Alisa stellte sich auf die Zehenspitzen
und spähte über die wogende Menge zur Bühne hinüber, wo die Musiker sich kräftig ins Zeug legten. Es mussten fast zwei Dutzend Streicher und Bläser sein, die der Dirigent mit seiner Geige in der einen, dem erhobenen Bogen als Taktstock in der anderen Hand, zusammenhielt. Das war also der berühmte Walzerkönig! Er musste die fünfzig bereits überschritten haben. Sein dichtes schwarzes Haar und der verwegene Schnurrbart, der für Alisas Geschmack viel zu groß ausfiel, ergrauten bereits. Dennoch besaß der begnadete Komponist und Musiker noch immer den Schwung eines jungen Mannes.
Der Tanz war zu Ende. Die Paare lösten sich voneinander und der Meister verbeugte sich dankend.
»Und nun, meine lieben Freunde, verehrtes Publikum, wie versprochen eine neue Komposition. Der Walzer Rosen aus dem Süden. «
Er nahm den Bogen zur Hand und ließ ihn über die Saiten gleiten. Die Gäste jubelten.
»Ich sage dir, schon morgen werden die Wiener Leib und Leben daransetzen, um ein Exemplar der Partitur zu ergattern - bevorzugt natürlich die Klavierversion, die der clevere Verleger sicher schon bereithält -, um am heimischen Pianoforte ein wenig am Glanz des großen Meistes teilhaben zu können. Doch nun lass uns tanzen!«
Er legte seinen Arm um ihre Taille, ergriff ihre Hand und führte sie in einer schwungvollen Drehung
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