Die Erben der Nacht 04 Dracas
nickte. »Ja, er ist nicht so tief wie gestern, und die Linie müsste auch stimmen, so wie ich sie in Erinnerung habe.«
»Und nun noch die Schulter!«, befahlt Ivy.
Alisa protestierte. »Nein! Das ist absolut unnötig. Wenn du ein hochgeschlossenes Kleid anziehst, kann keiner deine Schulter sehen. Man trägt nur im Tanzsaal Dekolleté!«
»Das stimmt«, mischte sich Luciano ein. »Selbst dein Fechtkleid wird deine Schulter an dieser Stelle bedecken.«
Ivy gab nach. »Danke, Leo! Und nun raus ihr beiden. Die Damen möchten sich ankleiden. Ich glaube, die Kammermädchen warten bereits.«
Unter der Tür drehte sich Franz Leopold noch einmal um. »Du solltest warten, bis der erste Blutstrom versiegt, ehe du dich unter die anderen mischst. Es fällt sonst zu sehr ins Auge, wie frisch die Wunde ist. Am besten, du kommst nicht in den Speisesaal hinunter. Es genügt, wenn sie dich in ein paar Stunden sehen, wenn der Unterricht beginnt.«
Ivy nickte. »Ein kluger Ratschlag, Leo, ich werde ihn beherzigen.
»Dann bleibe ich auch hier.« Solidarisch setzte sich Alisa neben Ivy aufs Bett.
»So ein Unsinn! Du sollst nicht meinetwegen auf deine Blutration verzichten. Wer weiß, vielleicht musst du heute gegen Karl Philipp fechten. Dann brauchst du deine Kräfte!«
Also gingen die Vampire in ihre eigenen Zimmer zurück, während sich Alisa und Ivy ankleideten. Die Kammermädchen schickten sie fort. Besser, die beiden bekamen nichts mit. Die jungen Wienerinnen waren zwar Unreine, aber auch sie gehörten zu den Dracas und waren dem Baron und seiner Schwester zu absolutem Gehorsam verpflichtet. Nein, lieber halfen sie sich gegenseitig beim Schnüren ihrer Gewänder, als ein Risiko einzugehen.
Heute waren zuerst die Tanzmeister an der Reihe, die selbst erst nach zehn Uhr ausgehen wollten und daher ihre Stunde gleich nach dem Abendtrunk begannen. Marie Luise spottete laut über Ivys verhüllte Schultern, was gar nicht zu einer Abendgarderobe für den Ballsaal passte. Sie selbst kokettierte mit ihrer von zarter Spitze umrahmten weißen Schulter. Mit einem gehässigen Lächeln trat sie auf Ivy zu.
»Nein, wie schrecklich! Muss sich unsere kleine Lycana verhüllen wie eine Matrone, weil sie nicht auf ihre Haut achtgegeben hat.«
»Marie Luise, verzieh dich und kümmere dich um deine eigene Haut, solange sie noch heil ist!«, fauchte Luciano.
»Oh, da geht einer für seine Freundin auf die Barrikaden. Luciano, ich wusste nicht, dass du so einen schlechten Geschmack hast. Sieh dir nur das magere Ding von der Insel an. Kläglich, einfach nur kläglich. Und was ist das?« Sie stutzte und trat noch näher. »Ihre Wunde blutet ja noch immer.« Etwas verwirrt hob sie die Hand und strich an Ivys Hals entlang.
»Hau ab!« Luciano schlug ihr die Hand weg.
Erstaunt betrachtete Marie Luise ihre blutigen Finger. »Tja, die Lycana ist von ganz schlechtem Blut. Ich habe es ja schon lange gesagt. So mickrig, wie sie sich entwickelt. Seht euch doch das dürre Ding an, das in den vergangenen Jahren kaum einen Zoll gewachsen sein kann. Und nun stellt sich auch noch heraus, dass ihre Regenerationsfähigkeit kaum besser entwickelt ist als bei einem Menschen.«
Von ihren Worten angelockt, trat Anna Christina herbei. Sie ließ ihren Blick nur schweigend an Ivy herabwandern. Luciano packte Ivy am Arm und versuchte, sie mit sich zu ziehen. Der Gesichtsausdruck der Dracas gefiel ihm ganz und gar nicht.
»Schlechte Regenerationsfähigkeit?«, wiederholte sie die Worte ihrer Cousine. »Oder einfach ein großer Bluff?« Ihr Arm schnellte vor und ehe Ivy es verhindern konnte, riss die Rüsche am Hals. Mit einem Aufschrei schlug Ivy ihr die Hand weg, raffte den Stoff zusammen und rannte aus dem Tanzsaal.
Anna Christina hob die Augenbrauen, sagte aber nichts und stolzierte davon.
Die anderen hatten bereits die ersten Schrittkombinationen des Kotillons wiederholt, als Ivy in einem einfachen, aber ebenfalls hochgeschlossenen Kleid zurückkehrte, einen Seidenschal um ihren Hals gewunden.
Das Leben im Palais Schey war kein schlechtes. Ja, die Familie lebte sogar noch luxuriöser als die meisten anderen begüterten Bürger an der Ringstraße. Üblicherweise bewohnten die Eigentümer lediglich die Beletage ihrer Häuser, während die Wohnungen in den beiden Stockwerken darüber vermietet wurden. In den Dachkammern
hausten die Bediensteten, während im untersten Geschoss, rund um den Innenhof, Ställe, Wagenremise und der Küchentrakt untergebracht
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