Die Erben der Nacht 04 Dracas
waren.
Im Palais Schey jedoch nahmen die repräsentativen Räume die gesamte Beletage ein. Hier lagen der beeindruckende Tanzsaal mit dem Balkon zum Burggarten hinaus, der Speisesaal, eine Bibliothek und ein Ecksalon. Im Mezzanin gab es gar ein eigenes Billardzimmer. Die Wohnräume der Familie waren auf den zweiten und dritten Stock verteilt. Dort befanden sich auch die zahlreichen kostbar ausgestatteten Gästezimmer, in denen Bram und Latona untergebracht worden waren. Man stellte Latona sogar ein eigenes Kammerfräulein zur Verfügung, in dessen Begleitung sie in die Stadt gehen durfte. Marla war sechzehn, Tochter eines Fischhändlers und einer Näherin und ein echtes Wiener Kind mit einem Faible für schaurige Geschichten.
Die Scheys gehörten zu den wichtigsten Persönlichkeiten in der Wiener Finanzszene und besaßen eine der wenigen Privatbanken, die den großen Börsenkrach nach der Weltausstellung 1873 unbeschadet überstanden hatten. Das sagte jedenfalls der Ungar Ármin Vámbéry, der schon ein halbes Jahrhundert mit dem Hausherrn befreundet war.
Abends ließ sich Latona von den Familienmitgliedern der Scheys ins Theater oder eines der Tanzlokale ausführen, wobei sie - trotz ihrer anfänglichen Ablehnung - die Gesellschaft des ältesten Enkelsohnes Philipp als recht angenehm empfand. Da meist einer seiner sechs Tanten oder Onkels beziehungsweise deren Frauen mit von der Partie waren, hatte Bram nichts dagegen, die jungen Leute ziehen zu lassen. Ab und zu kam er selbst mit, auch wenn er keinen Hehl daraus machte, dass er Oper und Theater den Tanzvergnügen vorzog.
Latona kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie hätte sich niemals träumen lassen, dass es solch riesige und prächtige Tanzsäle geben könnte. Der Odeonsaal in der Leopoldstadt oder der Tanzsaal im Sophienbad waren einfach unglaublich!
Doch noch mehr als alle abendlichen Vergnügungen sehnte sie die Stunden herbei, an denen sie mit Bram und dem Professor der
Budapester Universität in einem der kleinen Salons beisammensitzen und deren Gespräche über Vampire lauschen durfte.
»Ich habe viele Dörfer in Serbien und Siebenbürgen besucht, aus denen Gerüchte zu mir drangen, sie seien von Vampiren heimgesucht. Menschen starben an diesen Orten an einer eigenartigen Schwäche, bleich und blutarm. Wurde der verdächtigte Verstorbene wieder ausgegraben, fand man ihn seltsam unverwest mit prallem Leib. Haare und Nägel schienen nach seinem Tod gewachsen und frisches Blut quoll ihm aus Mund und Ohren.« Latona schüttelte sich, obgleich auch sie mit Onkel Carmelo solche Dinge bereits gesehen hatte. Oder vielleicht gerade deshalb?
»Was haben die Dorfbewohner mit solch einer Leiche gemacht?«, erkundigte sich Bram, der sich eifrig Notizen machte.
»Die bewährte Methode. Ein Pflock durch das Herz, den Kopf vom Hals getrennt«, antwortete der Professor mit einem Lächeln.
Latona zuckte zusammen, fasste sich aber gleich wieder. Bilder stiegen in ihr auf, von ihren nächtlichen Jagden auf Vampire, wenn Onkel Carmelo sie als Lockvogel benutzt hatte. Sie wischte ihre Hände an ihrem Rock ab, als würde noch immer Blut an ihnen kleben.
»Oft wurden die Leichen anschließend verbrannt und ihre Asche wurde verstreut«, fügte er hinzu, ohne Latona aus den Augen zu lassen. »Geht es Ihnen gut, Fräulein Latona? Sie sind so blass. Ich möchte mit meinen Erzählungen nicht Ihr zartes Gemüt belasten.«
Latona schnaubte abfällig. »Mit dem zarten Gemüt liegen Sie völlig falsch, Professor. Es sind nur die Erinnerungen, die sich manches Mal sogar bei Tageslicht zurückmelden.«
Der alte Mann sah sie lange an, dann erst fuhr er in seinem Bericht fort. »Das Opfer eines Vampirs stirbt meist nicht sofort. Offensichtlich nährt sich der Vampir Nacht für Nacht an ihm, bis es dann verendet oder gar selbst zum blutsaugenden Widergänger wird. Die Opfer klagen zunächst über nächtliche Enge in der Brust. Sie werden schwach und schwächer. Oft findet man kleine Wunden am Hals oder anderen Körperstellen, die nicht mehr heilen. Blass und blutarm schleppen sie sich dahin, bis sich der Tod nach einigen Nächten auf ihrem Lager niederlässt. Wer einmal von einem
Vampir gebissen wurde, ist gezeichnet, sagen die Menschen in Transsilvanien, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Dämon wiederkommt und sich sein Opfer endgültig zu eigen macht.«
Latona nickte nachdenklich. »Ja, vielleicht ist es so.«
Ármin Vámbéry ging nicht darauf ein. Er sprach
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