Die Erben der Nacht 04 Dracas
über die zahlreichen Rituale der Menschen, wie sie die Toten in ihre Gräber zu bannen versuchten.
»Die Menschen haben zahlreiche Mittel erdacht, sich vor den nächtlichen Widergängern zu schützen. Sie hängen sich nicht nur Knoblauchkränze über die Türen und Kruzifixe um den Hals. Sie versuchen auch zu verhindern, dass die Untoten überhaupt aus ihren Gräbern steigen. Indem sie Mohnsamen verstreuen, die der Vampir in seiner zwanghaften Art erst zählen muss, ehe er sein Grab verlassen kann, oder indem sie die Toten in Fischernetze wickeln. Auch hier soll dem Vampir der Tick zum Verhängnis werden. Er fühlt sich gezwungen, erst einmal alle Knoten zu zählen, ehe er sich aus seinem Grab erhebt. In anderen Gegenden benutzen die Leute ebenfalls Samen und Netze, glauben aber, der Vampir würde zuerst jedes Jahr einen Knoten lösen und einen der Samen essen, ehe er zum Wiedergänger werden würde. Das verschafft ihnen dann viel Zeit und verschiebt das Problem auf eine andere Generation.« Der Professor lächelte schief, Latona dagegen schnaubte abfällig.
»Als ob sich ein Vampir von solch einfältigen Ritualen in Schach halten ließe. Ein Vampir mit einem Zähltick? So ein Blödsinn! Nein, solch einem stumpfsinnigen Wesen bin ich bislang noch nicht begegnet.«
»Das glaube ich gerne, mein Fräulein«, sagte der Professor sanft, ohne den Blick aus seinen hellgrauen Augen von ihr zu wenden. Bram warf ihr einen warnenden Blick zu, aber Latona sprach wie unter Zwang weiter.
»Ich weiß, es gibt unter ihnen blutrünstige, böse Gesellen, die morden und zerstören und nur ihrem Drang nach Blut folgen. Vielleicht muss man diese wirklich verfolgen und vernichten. Mir sind aber auch Vampire begegnet, die mit ihrem brillanten Geist über diesen Hokuspokus der Menschen mit ihren Abwehrzaubern nur lächeln. Sie sind keine Dämonen oder widerliche Monster. Sie
besitzen Gefühle wie alle Menschen, können lieben und leiden …« Latona brach ab und sah die beiden Männer erschrocken an. So viel hatte sie nicht preisgeben wollen.
Der Professor nickte langsam. »Mein Fräulein, ich hätte nicht gedacht, dass ich in Ihnen eine so interessante Gesprächspartnerin finden könnte. Ja, ich glaube, wir werden uns noch viel zu erzählen haben.«
Latona presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Nein, im Augenblick würde sie kein weiteres Wort mehr preisgeben.
DIE MACHT DER GEDANKEN
»Ich spüre einen gewissen Unmut.« Franz Leopold sah Alisa von der Seite an. »Nein, ich korrigiere mich. Ich fühle mich von einer Wolke des Unmuts umhüllt.«
»Ja, und tu nun nicht so scheinheilig, als wüsstest du nicht, was mich beschäftigt. Du hast dich wieder in meine Gedanken geschlichen. Ich habe es wohl bemerkt.«
»Und mit mehr oder minder großem Erfolg versucht, mich davon abzuhalten«, ergänzte er liebenswürdig. Alisa knurrte und zeigte ihre Zähne.
Sie schlenderten gemeinsam durch den Park zwischen den beiden Hofmuseen, die der Kaiser für seine Sammlungen gegenüber der Hofburg an der Ringstraße hatte errichten lassen. Noch waren die Innenräume nicht fertig, doch die zwillingsgleichen Palastbauten ließen bereits erahnen, welch würdiger Rahmen die Kunstwerke erwartete. Das wurde aber auch Zeit. Vor allem die Natur- und Völkerkundeexponate dämmerten zusammengestopft auf Dachböden und in Räumen der kaiserlichen Bibliothek dahin. Für die ausgestopfte Giraffe hatte man gar ein Loch in die Decke schlagen müssen, da keiner der Räume hoch genug war, sie aufzunehmen.
Franz Leopold gab sich jede Mühe, Alisa mit seinen Anekdoten zu unterhalten.
»Früher hat der Kaiser einen echten, ausgestopften Mohren besessen. Angelo Soliman hieß er zu seinen Lebzeiten und war zuerst Fürst Lobkowitz und später Fürst von Liechtenstein als Reisebegleiter und Kammerdiener nützlich. Er war so klug und gebildet, dass er gar in die Loge der Freimaurer aufgenommen wurde, und selbst Kaiser Josef II. schätzte seine Gesellschaft. Vielleicht zu sehr, denn nach seinem Tod ließ der Kaiser den Mohren ausstopfen und - trotz jahrelangem Protest seiner Tochter - in seinem k. k. Naturalien-Cabinet ausstellen.«
Alisa schüttelte den Kopf. »Die Menschen sind schon seltsam. Dann zieht Soliman also demnächst samt Giraffe in das neue Museum um?«
»Nein, das Exponat ging dem Kaiserhaus leider verloren. Als sich der 48er-Revolutionsmob aus empörten Arbeitern und Studenten zur Hofburg aufmachte, traf eine verirrte Kugel der kaiserlichen
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