Die Erben der Nacht 04 Dracas
den Redouten vor Fasching wird die Saison ihren Höhepunkt erreichen.«
»Und? Was hat das mit uns zu tun?«, wollte Branko wissen.
Aurica ließ ihr lückenhaftes Gebiss sehen. »Vielleicht will Tonka mit uns ein kleines Tänzchen wagen.«
»Quatsch!«, donnerte Branko. »Also, was hat die Ballsaison mit uns zu tun?«
»Ich habe neben euch und den Raben noch andere Möglichkeiten, Nachrichten zu erlangen. Wie, das tut nichts zur Sache. Jedenfalls planen die Dracas, in ihren eigenen Saal zum Tanzabend zu laden. Warum? Es ist eine Art Test, bevor sie die Erben offiziell in die große Gesellschaft einführen. Sie sollen sich bei dem Fest im Palais Coburg bewähren, um dann - alle gemeinsam - das große Parkett zu betreten.«
»Sie wollen in ihrem Haus ein Fest ausrichten? Wer sollten denn da die Gäste sein?«, wunderte sich Málka.
»Die Damen und Herren der Wiener Gesellschaft?«, schlug Tonka vor.
»Menschen?«, rief Málka entgeistert.
»Ich vermute schon. So viele andere Vampire gibt es hier nicht. Ich jedenfalls konnte keinen wittern, an dem nicht der unverwechselbare Geruch der Dracas haftete. Und uns werden sie wohl kaum zu ihrem Ballabend laden«, fügte sie mit einem Grinsen hinzu.
»Sie wissen doch gar nicht, dass wir hier sind«, meinte Jesko und kratzte sich den Schädel mit dem dunklen, verfilzten Haar.
»Nein, ich hoffe sehr, dass sie das nicht wissen. Und wenn ihr euch an meine Anweisungen haltet, dann wird das auch noch eine Weile so bleiben.« Sie sah Jesko scharf an. »Aber tröste dich, selbst wenn die Dracas von unserer Anwesenheit Kenntnis hätten, würden sie uns bestimmt keine Einladungskarte zukommen lassen.«
»Was soll ich auch auf so einem Ball?«, murmelte Jesko. Tonka
unterdrückte ein Stöhnen. Warum nur hatte sie diesen Kerl mitgenommen, der für keinen Pfifferling Hirn zu besitzen schien?
»Und wann wird das sein?«, drängte Málka.
Tonka hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Aber ich bin zuversichtlich, dass unser Ziel zum Greifen nahe ist.«
»Hoffentlich!«, brummte Václav.
Das hoffte Tonka auch, denn jede Nacht, die verstrich, fühlte sie sich wie neben einem Fass Pulver, an dem die Lunte bereits brannte. Ihre Begleiter waren unberechenbar und kaum mehr zu zähmen. So führte sie ihre Upiry nun fast jede Nacht in einen der Vororte, wo die armen Arbeiter ihr kärgliches Dasein fristeten. Am häufigsten statteten sie dem Wienerberg ihren Besuch ab. Die Ziegelwerke dort waren nicht irgendeine Fabrik. Sie waren eine Stadt für sich und eine eigene kleine Hölle aus rotem Lehm, glühenden Öfen und zähen, schlammigen Gruben. Heinrich von Drasche-Wartinberg hatte seine Leute im Griff. Sie arbeiteten und lebten hier auf dem Gelände, dafür mussten sie sich den harschen Regeln beugen. Kartenspiel und Kegelschieben waren verboten. Und auch für viele andere Vergehen konnte man ganz einfach seine Arbeit und seine Wohnung verlieren. Im Sommer wurde gearbeitet, solange es hell war. Sonntags durften die Arbeiter die Messe besuchen. Ansonsten wurde täglich bis zur totalen Erschöpfung gearbeitet. Ab zwölf Jahren mussten die Kinder in den Ziegelschlag. Ja, es gab eine Schule und auch die Schulpflicht, aber keinen, der diese Dinge kontrollierte. Die Brenner hatten mit achtzehn Stunden die längsten Schichten. Die Lehmtreter mussten zwar nicht ganz so lange arbeiten, aber dafür bekamen sie von ihrer Arbeit früh Rheuma in den Gelenken. Geld verdienten die Arbeiter, die meist aus Böhmen oder Ungarn kamen, nicht. Bei Drasche bekam man die Wienerberger Blechmarken, mit denen man dann in den werkseigenen Läden einkaufen konnte, in denen alles eben ein wenig teurer war. Dafür blieben die Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem Gelände und trieben sich nicht in der Stadt oder in den Heurigen am Linienwall herum.
Für die Vampire der Upiry hatte der Wienerberg den Vorteil, dass es hier unglaublich viele Menschen auf engstem Raum gab,
von denen viele krank und geschwächt waren, sodass die Toten am Morgen ohne Geschrei auf einen Karren geladen und nach Einbruch der Dunkelheit zum Friedhof gefahren wurden. Wenn man sich zurückhielt und keine zu auffälligen Bisswunden zurückließ, gab es keine Fragen. Nur ein wenig resignierende Trauer und einen stillen Abschied, denn der Rest der Familie musste ja wieder an die Öfen oder in die Lehmgruben steigen, wenn sie auch morgen noch satt werden wollten.
Tonka konnte nicht sagen, ob es Heinrich Drasche oder einem seiner Vormänner auffiel,
Weitere Kostenlose Bücher