Die Erben der Nacht 04 Dracas
Blick an der ein wenig schäbigen und ungepflegt wirkenden Fassade des ansonsten unauffälligen Hauses emporwandern.
»Du willst mir allen Ernstes erzählen, in diesem Haus wohnen Geister?«
Marla nickte. »Ja, jeder, der sich je dort einquartiert hat, kann davon berichten. Viele hielten es kaum eine Nacht aus. Auch der Architekt, der an der Oper mitgebaut hat, van der Nüll hieß er, hat für kurze Zeit in diesem Haus gewohnt, und jeder weiß, dass er sich kurz darauf das Leben nahm!«
Darüber musste Latona eine Weile nachdenken, während sie weiter durch die Stadt gingen.
»Was sind denn das für Geister?«, fragte Latona, als sie den Bogen zurück zum Platz »Am Hof« schlugen, wo der erste Palast der Babenberger Herzöge gestanden hatte. Dort hatte der Revolutionsmob im Jahre 48 Graf Baillet-Latour ergriffen, den Kriegsminister mit Spießen traktiert und seine Leiche dann an einer der Gaslaternen
aufgehängt, was Marla nicht versäumte ihrer Herrin bis in die grausamen Details zu berichten, als habe sie sie mit eigenen Augen gesehen. Dann erst ging sie auf die Frage ein.
»Was für Geister? Wie meinen Sie das, Fräulein? Gespenster eben. Manche hört man nur, andere kleiden sich in Weiß oder Schwarz.«
»Hast du schon einmal von welchen gehört, die Blut trinken?«
Marla sah ihre Herrin nachdenklich an. »Sie meinen Vampire? Ja, die haben wir auch. Der erste Vampir hier in Wien war der Habsburger Herzog Johann. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo sich die Geschichte zugetragen hat. Es ist nicht weit.«
Sie führte Latona zur Freyung, einem dreieckigen Platz, neben dem sich auf der Stadtseite prächtige Barockpalais erhoben. Auf der Seite, die von der Stadt abgewandt war, stand das Schottenk loster, das eigentlich von irischen Mönchen gegründet worden war.
»Sehen Sie den Steinblock dort? Das ist der Asylstein. Heutzutage haben die Kirchen nicht mehr die Macht, in ihrem Haus Asyl vor Verfolgung zu bieten, doch früher gehörte das Schottenkloster zu den Plätzen, die jedem Menschen Schutz vor der königlichen Justiz boten, sei er nun schuldig oder nicht. Es begab sich also unter den ersten Habsburger Herzögen. Albrecht und Rudolf waren Brüder. Als Rudolf starb, erbte Albrecht den Herzogentitel. Rudolfs Sohn Johann aber fühlte sich um sein Erbe betrogen. Also heuerte er ein paar Männer an, lauerte dem herzöglichen Onkel auf und erschlug ihn. Seine Witwe schwor Rache und ließ die Mörder jagen. Johann floh nach Wien und suchte hier am Asylstein Schutz vor seinen Verfolgern. Doch die Mönche wollten den Mörder ihres Herzogs nicht aufnehmen. So saß er also auf dem Stein und konnte sich keinen Schritt fortbewegen, wollte er sich nicht seinen Häschern ausliefern. In der Nacht aber kam der Teufel zu ihm und biss ihm in den Hals. Er trank sein Blut und verdammte ihn zu einem ruhelosen Dasein in der Finsternis der Nacht zwischen den Welten.«
Langsam machten sie sich auf den Heimweg. Latona dachte über die Geschichte nach. »Das ist schon sehr lange her, nicht?«
Marla nickte. »Ja, mehr als fünfhundert Jahre, habe ich gehört.«
»Und danach? Gab es weitere Vampire in der Stadt?«
Marla schnaubte abfällig. »Aber ja. Sie sterben ja nicht und gehen auch ganz sicher nicht einfach von hier fort. Er gibt sie hier unter uns. Gerade in diesen Tagen passiert es wieder! Nachts schleichen sie durch die Parks und dunklen Gassen und stillen an leichtsinnigen Passanten ihren Durst nach Menschenblut.«
»Woher willst du das wissen?«, konterte Latona.
»Ha, selbst ich bekomme mit, was in der Zeitung steht. Haben Sie das nicht gelesen? Erst in den vergangenen Wochen gab es wieder blutleere Leichen mit Bisswunden! Und die Polizei sucht wie immer unter den Menschen Wiens nach ihrem Mörder.« Sie lachte abfällig. »Sie werden für diese Fälle keinen finden, genauso wenig wie die letzten Male, als so etwas vorgekommen ist. Meine Großmutter hat mir von jedem einzelnen Fall, den sie erlebt hat, berichtet!«
Grübelnd schritt Latona neben ihr her und versuchte abzuwägen, was sie von den vielen Dingen, die Marla gesagt hatte, ernst nehmen sollte. Vampire hier in Wien? Warum nicht. Wenn es sie in Ungarn und Serbien gab, in Rom und Paris und selbst in Irland, wie Bram ihr erzählt hatte.
»Hast du eine Ahnung, wo diese Vampire wohnen?«
Marla hob die Schultern. »Es sind Untote, die nachts aus ihren Gräbern steigen. Vermutlich gibt es die meisten auf dem Zentralfriedhof. Ich jedenfalls würde dort nachts
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