Die Erben der Nacht 04 Dracas
schwerfälligen Braunen auf seinen Schienen gezogenen Tramwagen. Doch auch auf dem von kahlen Alleebäumen gesäumten Fuß- und Reitweg war noch einiges los. Am Schwarzenbergplatz begann der Corso der Vornehmen und Reichen, der bis zur Oper und dann weiter zur Hofburg führte. Franz Leopold sah die Herren der Gesellschaft in die Kaffeehäuser strömen.
Luciano hatte jedoch weder für die Kaffeehäuser noch für die teuer gekleideten Menschen, die müßig dahinschlenderten, ein Auge. In sich versunken ging er dahin, wobei er wenigstens sein übliches Tempo so zügelte, dass er in der Menge nicht auffiel. Franz Leopold begann sich zu langweilen und versuchte Lucianos Gedanken zu erhaschen. Er dehnte seinen Geist, bündelte ihn und richtete die Energiebahnen auf die Gestalt vor sich. Nun kam der
entscheidende Moment. In Lucianos Geist einzudringen war leicht. Dies jedoch unbemerkt zu tun, war schon viel kniffliger. Franz Leopold kam dabei zugute, dass Luciano tief in seinen Träumereien versunken war und nicht mit einem Beobachter rechnete. Was ein Fehler war, dachte Franz Leopold missbilligend. Man musste immer auf der Hut sein. In diesem Fall allerdings war ihm Lucianos Leichtsinn durchaus recht.
Nein, Franz Leopold wunderte sich nicht, dass er als Erstes auf das Bildnis des jungen Mädchens stieß, wobei er kritisch bemerkte, dass sie in Lucianos Vorstellung noch schöner und geistreicher ausfiel als in Wirklichkeit. Luciano schwelgte in seinen Erinnerungen und schien ihr Geplauder nahezu wortwörtlich zu wiederholen - wobei Franz Leopold nichts darunter fand, was ihm wert schien, sich damit zu beschäftigen.
Lucianos Gedanken kehrten aus der Vergangenheit zurück und huschten über die Ringstraße zu dem bevorstehenden Rendezvous. Der Dracas verzog angewidert das Gesicht. Falls er sich jemals so sehr verlieben sollte, würde er darauf achten, keinen kompletten Narren aus sich zu machen!
Plötzlich stutzte er. Etwas hatte Luciano aus seinen Träumereien gerissen. Blitzschnell zog sich Franz Leopold aus seinem Geist zurück und blieb wie der Nosferas stehen. Hatte er seinen Verfolger entdeckt? Das war doch nicht möglich! Franz Leopold war überzeugt, vorsichtig genug gewesen zu sein. Schließlich war sein Opfer völlig in sein Liebesglück versunken.
Luciano wandte langsam den Kopf, doch sein Blick glitt nach oben. Nein, den Dracas hatte er nicht entdeckt. Etwas anderes irritierte ihn. Worauf starrte er da nur?
Franz Leopold streckte erneut seine unsichtbaren Fühler aus und erhaschte einen Gedanken.
Verfluchte Raben! Das ist nicht normal, das kann mir keiner erzählen! Sie verhalten sich einfach nicht, wie Vögel ihresgleichen es tun sollten.
Franz Leopold folgte dem Blick, bis er die drei schwarzen Vögel entdeckte, die auf den höchsten Ästen der Kastanie kauerten und die letzten gelben Blätter als Versteck nutzten.
Das war absurd. Warum sollten Raben das tun? Wessen Entdeckung
sollten sie fürchten? Und überhaupt. Warum waren sie um diese Zeit noch unterwegs?
Ich würde glauben, die Dracas benutzen sie als ihre Spione, doch wie kann es dann sein, dass Leo nichts von ihnen weiß? Oder hat er uns belogen? Vielleicht.
»Verschwindet!«, brummte er. »Das geht euch überhaupt nichts an.«
Franz Leopold kaute auf seiner Unterlippe. Er war sich sicher, dass diese Vögel nicht dem Befehl eines Dracas unterstanden. Nicht dass er über alles informiert war, was die Clanführer und ihre engen Vertrauten so trieben. Sicherlich hatte er ein ansehnliches Talent, Gedanken zu lesen, doch die Fähigkeit vieler Dracas, ihre Gedanken meisterhaft zu verbergen und gegen jedes Eindringen abzuschirmen, war noch größer. Trotzdem, Tiere für solch eine Aufgabe einzusetzen, war einfach nicht die Wahl, die ein Dracas treffen würde. Ein Pyras, ja, und auch ein Lycana, aber nicht ein Dracas!
Luciano ging weiter. Franz Leopold folgte ihm. Er fokussierte seine Kräfte. Dieses Mal aber nicht in Richtung des Nosferas. Die Raben waren sein Ziel. Er wollte wissen, was es mit den Vögeln auf sich hatte, die ihm Ende des Sommers zum ersten Mal aufgefallen waren. Seitdem tauchten sie immer wieder unvermittelt an den überraschendsten Orten auf. Konnte das Zufall sein?
Der Dracas glaubte nicht an Zufälle. Wenn er dies aber ausschloss und ebensowenig für möglich hielt, dass sie im Auftrag des Barons unterwegs waren, dann stellte sich die Frage, für wen sie arbeiteten und wer sich ihre Beobachtungen zunutze machte.
Vielleicht
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