Die Erben der Nacht 04 Dracas
ihre neue Herrin zuallererst zu den verschiedenen Plätzen, auf denen nicht nur im Mittelalter Hinrichtungen stattgefunden hatten. Latona folgte ihr mit Interesse und einem wohligen Schaudern quer durch die Stadt.
»Die Schranne mit dem Pranger und dem Narrenkotter standen hier am Hohen Markt, ganz in der Nähe des Rathauses, das ja schon bald seine Tore schließen wird, sobald das große, neue Rathaus an der Ringstraße fertig ist. Jedenfalls wurden dort an der Schranne die Verbrecher vorgeführt und ihre Urteile verlesen. Und wenn der Stab über den zu Tode Verurteilten gebrochen war, führte man ihn zu seiner Hinrichtungsstätte, von denen es hier in Wien so einige gab. Die kleinen Spitzbuben oder auch unzüchtigen Weiber band man hier an den Pranger oder sperrte sie in den Narrenkotter, wo sie dem Spott und auch den Fischabfällen der Menge ausgesetzt waren. Der Hohe Markt war seit jeher der Fischmarkt.« Marla grinste. »Hier fanden auch immer mal wieder Enthauptungen statt. Wenn viele Zuschauer erwartet wurden, zog man zum Platz am Hof oder auch zum schimpflichen Schweinemarkt um, an dem heute das Palais der Familie Lobkowitz steht. Auf der Gänseweide loderten die Scheiterhaufen, an der mittleren Donaubrücke wurde ersäuft, auf dem Wienerberg gevierteilt und ein Galgen errichtet. Später ragte der Galgen bei der Spinnerin am Kreuz im Süden von Wien auf.«
»Da gehen wir nicht auch noch hin«, protestierte Latona. »Mir tun schon die Füße weh.«
Marla grinste. »Nein, da müssten Sie schon die Kutsche nehmen. Das ist zu weit. Aber ich sage Ihnen, an diesen Plätzen kann man noch den Seelen der Hingerichteten begegnen«, fügte sie im Flüsterton hinzu.
Latona hob die Augenbrauen. »Du meinst Geister und so?«
Marla nickte. »Ja, spotten Sie nicht. Es gibt viele Geister und andere seltsame Wesen der Nacht, vor denen die Leute sich zu Recht fürchten.«
Das wollte Latona nicht abstreiten. Marla wertete ihr Schweigen als Zustimmung und als Aufforderung, ihre seltsame Stadtführung fortzusetzen.
»Kommen Sie mit«, sagte sie eifrig. »Nicht weit von hier ist ein interessanter Ort.«
Das Kammermädchen führte sie zu einer kurzen, gebogenen Gasse, die zum Donaukai hinunterführte. Links erhob sich auf einem Hügel die kleine mittelalterliche Kirche St. Ruprecht.
»Wir sind hier am Rabensteig«, begann Marla und blickte Latona auffordernd an. Diese tat ihr den Gefallen und erkundigte sich, wie die Gasse zu ihrem Namen kam.
»In früheren Zeiten verlief hier die alte Stadtmauer. Ja, man sagt, es sei noch ein Stück Mauer aus der Zeit gewesen, als es hier ein Lager der Römer gab. Jedenfalls floss hier ein Bach den Berg hinunter auf die Donau zu. Nun begab es sich ab und zu, dass jemand von der Mauer zu Tode stürzte. Sei es ein Unfall gewesen, sei es, dass jemand Hand an sich legen wollte oder aber im Schutz der Nacht gemeuchelt wurde.« Ja, Marla genoss ihre Erzählung und schauderte mit wohliger Miene.
»Jedenfalls nahm der Bach die Toten mit sich, bis er dort vorn um die Kurve floss. Hier wurden die Leichen dann angespült und die Raben kamen, um ihnen die toten Augen auszupicken und sich an ihrem Fleisch gütlich zu tun.«
Latona konnte nicht verhindern, dass ein schauriges Bild in ihr aufstieg.
»Verzeihen Sie, Fräulein, doch so ist es gewesen. Und viel geändert
hat sich nicht. Schon lange fließt der Bach unterirdisch in einem der Abwasserkanäle der Donau zu und dennoch muss auch sein Wasser Leichen wegschaffen oder zumindest Teile von menschlichen Körpern. Denn nicht selten hacken die Mörder ihre Opfer in Stücke, um ihre Tat zu vertuschen und sich den Körper leichter vom Hals zu schaffen. Die Fettfischer, die wie die Strotter in den unterirdischen Kanälen unterwegs sind, um nach etwas zu suchen, das man zu Geld machen kann, klauben noch heute ab und zu menschliche Teile heraus und verkaufen sie an die Seifenfabriken.«
»Jetzt ist es aber genug!«, rief Latona aus. »Kein Wort mehr von Leichen oder Leichenteilen!«
Marla hob die Schultern. »Ich berichte nur die Wahrheit. Gut, dann wenden wir uns eben den armen, verlorenen Seelen zu. Nicht alle wurden im Himmel willkommen geheißen oder fuhren geradewegs in die Hölle. Viele sind hier irgendwie hängen geblieben. Vielleicht, um dafür zu sorgen, dass das Verbrechen gesühnt wird, das an ihnen begangen wurde. Jedenfalls versammeln sich die Geister dort drüben in dem Haus, das wieder einmal leer steht.«
Latona ließ verdutzt den
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