Die Erben der Nacht 04 Dracas
Leopold stehen. Warum also nicht das Mädchen vor die Wahl stellen? Es wäre doch interessant zu sehen, wie so ein kleines, unschuldiges Menschenmädchen
reagieren würde, wenn es die Wahl zwischen einem Nosferas und einem Dracas hätte!
Es war ihm, als würde ihn Alisa vorwurfsvoll ansehen. Rasch verdrängte er den Gedanken an die Vamalia. Das hatte nichts mit ihr zu tun. Zumindest redete er sich das ein.
DER RAUSCH DES BLUTES
Draußen vor dem Salon breitete sich ungewohnte Unruhe aus. Über Stunden war es an diesem regnerischen Spätherbsttag so still im Palais Schey gewesen, dass die Stimmen nun umso lauter erschienen.
Latona sah von ihrem Roman auf, den die alte Baronin von Schey ihr mitgebracht hatte. Heidis Lehr- und Wanderjahre , von Johanna Spyri.
»Was ist denn los?«, erkundigte sie sich. Bei dieser Lektüre war ihr jede Ablenkung recht. Wie konnte ihr die Baronin ein Buch für kleine Kinder geben?
Bram Stoker erhob sich. »Ich vermute, ein weiterer Gast ist eingetroffen.« Er ging auf die Tür zu, hielt dann aber inne, drehte sich zu ihr um und begann seine Hände zu kneten. Latona sah ihn erstaunt an. Es wirkte, als würde er sich nicht wohl in seiner Haut fühlen.
»Sie wissen, um wen es sich handelt?«
»Äh, ja, er hat mir seine Ankunft telegrafisch angekündigt und die Kutsche ist vor einer Stunde zum Bahnhof gefahren, um ihn abzuholen.«
»Aber sein Besuch ist Ihnen nicht recht«, schlussfolgerte Latona aus seinem seltsamen Verhalten.
»Nein, so kann man das nicht sagen«, widersprach Bram. »Ich selbst habe dieses Treffen angeregt.«
»Und wovor fürchten Sie sich dann?«
»Vor deinem Temperament und deinem Zorn«, gab er leise zu.
Das Buch fiel zu Boden. Latona erhob sich aus ihrem bequemen Sessel, ohne Bram aus den Augen zu lassen. Langsam trat sie auf ihn zu.
»Was haben Sie getan?«, stieß sie hervor.
Er hielt ihrem Blick stand. Die Unsicherheit, die er gerade noch ausgestrahlt hatte, war verschwunden.
»Ich habe Professor van Helsing um ein Treffen gebeten.«
»Was? Warum denn das? Wollen Sie nun auch unter die Vampirjäger gehen? Darf ich Sie daran erinnern, dass mein Onkel Carmelo ihn ebenfalls besuchte, nur um in Paris dann sein Leben zu verlieren?« Ihre Stimme wurde zunehmend lauter.
»Beruhige dich! Das ist nicht der Grund.«
Die Meldung des Butlers unterbrach ihn. »Professor van Helsing aus Amsterdam für Herrn Stoker und Fräulein Latona. Darf ich bitten.«
Er trat mit einer Verbeugung zur Seite und gab den Blick auf den Besucher frei, der zwar Mantel und Hut abgelegt hatte, jedoch noch seinen Reiseanzug trug.
Er schien ihr unverändert, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte. Noch immer war sein Haar kurz und mehr braun als grau, der Bart dafür zu lang und ungepflegt. Sein Reiseanzug saß so schlecht wie der, den er in Amsterdam getragen hatte, gab ihm aber mehr Bewegungsfreiheit. Den plumpen Spazierstock hatte er dem Butler nicht überlassen, sondern hielt ihn in seiner Rechten. Ganz sicher nicht um seinen sehnigen und überaus agilen Körper zu stützen. Nein, der Stock barg eine scharfe Klinge, die der Professor wohl zu führen wusste.
Der Gast neigte den Kopf und streckte Bram die Hand entgegen.
»Professor van Helsing, herzlich willkommen. Es tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände bereite.«
»Aber Mr Stoker, ich bitte Sie. Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Ja, Sie haben meine Neugier geweckt. Eine interessante Aufgabe, für die ich mich gerne auf den Weg gemacht habe.«
Er wartete, bis sich der Butler zurückgezogen und die Tür geschlossen hatte. Dann richtete er seine hellen Augen auf Latona. Van Helsing fixierte sie so scharf, dass sich das Mädchen unter seinem Blick ein wenig duckte. Dann erst reichte er ihr die Hand. »Ich freue mich, dass wir uns wiedersehen, auch wenn ich Ihnen mein herzliches Beileid zum Ableben Ihres Oheims aussprechen muss. Er ist doch tot? Ich meine, richtig tot?«
Latona erwiderte seinen Blick, auch wenn es ihr schwerfiel. »Ja, er ist richtig und vollständig tot, wenn Sie das beruhigt.«
»Das tut es, in der Tat. Darf ich fragen, wo sich sein Grab befindet?«
Latona wand sich ein wenig. »In Paris«, sagte sie schließlich. Der Blick und die hochgezogenen Augenbrauen zwangen sie, weiterzusprechen.
»In den Katakomben, zwischen all den Millionen Knochen, die dort irgendwann einmal hingeschafft und aufgetürmt wurden. Zumindest habe ich ihn dort zum letzten Mal gesehen.«
Van Helsing beugte sich vor.
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