Die Erben der Nacht 04 Dracas
»Und woran ist er gestorben? An dem Biss eines Vampirs, nehme ich an?«
Latona nickte wie unter Zwang.
»Dann können wir uns nicht sicher sein, dass er tot ist?«, vermutete Bram, dem dieser Gedanke bislang noch nicht gekommen war.
»Möglich ist alles. Sie müssen mir jede Einzelheit berichten, dann kann ich mehr dazu sagen.«
Bram hob die Hände. »Latona wurde von diesem Vampir in die Katakomben entführt und ihr Onkel versuchte vergeblich, sie zu befreien.«
»Das ist nicht wahr!«, rief Latona. »Seigneur Thibaut wollte mir nichts tun. Ich habe ihn aus den Händen dieser Wissenschaftler gerettet, die ihn quälten, und dafür hat er mir sein Wort gegeben. Carmelo ist gestorben, weil er es nicht lassen konnte, Vampire zu jagen, um sie zu vernichten, obwohl er es mir und den Nosferas in Rom geschworen hat!«
»Aber dieser Vampir hat Sie doch gebissen, nicht wahr?« Van Helsing sah zu Bram hinüber. »Bin ich nicht deshalb nach Wien gereist?«
»Nein, hat er nicht!«, rief Latona empört.
»Es war nicht dieser Thibaut.«
»Bram, unterstehen Sie sich!«, rief Latona, aber er sprach dennoch weiter.
»Es war ein anderer, jüngerer Vampir - zumindest sieht er aus wie ein junger Mann. Er nennt sich Malcolm und stammt aus London.«
»Und der hat Sie gebissen, mein Kind?« Van Helsing trat näher und musterte aufmerksam ihre bleichen, eingefallenen Gesichtszüge. Sein Zeigefinger schob die Rüsche ihres Kleides beiseite. Lange betrachtete er die beiden winzigen Narben an ihrem Hals.
»Er wollte es nicht!«, verteidigte Latona den Vampir. »Es liegt in seiner Natur, die Leidenschaft hat ihn übermannt.«
»Er hätte dich getötet, wenn ich ihn nicht aufgehalten hätte!«, widersprach Bram.
»Nicht absichtlich!«, beharrte Latona.
»Absichtlich oder nicht. Das Ergebnis wäre dasselbe gewesen.«
Sie starrten sich gegenseitig mit grimmigen Mienen an.
Van Helsing zog sich einen Sessel heran und ließ sich in das Polster sinken. »Ein interessanter Fall, ja. Mr Stoker, Sie haben mir einen Gefallen getan, mich nach Wien zu rufen. Ich hoffe, ich kann Ihre Befürchtungen schon bald entkräften. Dazu bedarf es noch einiger Untersuchungen. Doch ich kann Ihnen bereits jetzt Hoffnung machen, dass Ihr Schützling vermutlich keinen ernsthaften körperlichen Schaden genommen hat. Ich freue mich, Latona in so kämpferischer Stimmung zu sehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass allein dieser Biss sie zu einem Wesen der Nacht werden lässt. Nein, dazu müsste sie auch von seinem Blut getrunken haben, und dann wäre die Wandlung längst vollzogen. Aber das werden wir alles mit ein paar Experimenten herausfinden.«
Latona ärgerte sich, dass van Helsing mit Bram sprach, als sei sie nicht im Zimmer. Sie nahm sich vor, ihm auf keinen Fall für irgendwelche Versuche zur Verfügung zu stehen.
»Es tut mir sehr leid, Professor van Helsing«, sagte sie geziert, »dass Sie die lange Reise völlig umsonst unternommen haben. Ich brauche keine Untersuchungen! Und daher verabschiede ich mich
auch sogleich wieder von Ihnen. Leben Sie wohl und kommen Sie gut nach Amsterdam zurück.« Mit hocherhobenem Haupt ging sie hinaus. Bram sah ihr bestürzt hinterher.
»Verzeihen Sie«, begann er, aber van Helsing winkte ab.
»Machen Sie sich keine Gedanken. Ein wenig Starrsinn ist nicht das Schlechteste. Das Mädchen hat Charakter. Lassen Sie ihr etwas Zeit, dann wird sich alles finden. Ich jedenfalls habe nicht die Absicht, in den nächsten Tagen abzureisen. Daher schlage ich vor, wir rufen den Butler, der mir mein Zimmer zeigen wird, und ich richte mich mit meinen Instrumenten erst einmal in Ruhe ein.«
Bram nickte dankbar und griff nach der Glocke, um den Butler zu rufen.
Am nächsten Abend wollte sich Luciano wieder davonmachen, als er im Vestibül auf den Altehrwürdigen Guntram stieß. Dass dies kein Zufall sein konnte, war Luciano klar. Er hatte ihm aufgelauert.
»Ah, Luciano, schön, dass ich dich treffe. Ich finde, wir sollten heute Nacht überprüfen, wie es um deine Fortschritte mit der deutschen Sprache bestellt ist.«
»Mein Deutsch ist gut genug«, antwortete er. »Meine Freundin Alisa de Vamalia hat mir bereits in den vergangenen Jahren viel beigebracht. Ich komme also zurecht. Danke.«
Luciano machte einen halbherzigen Versuch, sich an dem Professor vorbeizudrängen, doch der packte ihn hart am Arm. Seine Klauen waren wie Eisenringe, die Stimme aber blieb trügerisch sanft.
»Davon überzeuge ich mich lieber selbst.
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