Die Erben der Nacht 04 Dracas
den Sorgenfalten auf der Stirn, der Ungar ein wenig ungläubig und van Helsing mit wissenschaftlichem Interesse.
»Ungewöhnlich«, murmelte er. »Sehr ungewöhnlich. Ich habe in vielen Berichten der Opfer von der hypnotischen Anziehungskraft der Vampire gehört. Ein Blick, der jeden Widerstand verlöschen lässt, der die Angst vertreibt und die Opfer wie Puppen agieren lässt - gesteuert von der Macht des Geistes, über die die Vampire offensichtlich verfügen. Meist aber verfliegt die Wirkung, sobald sich der Blutsauger entfernt. Es wird wie das Erwachen aus einem intensiven Traum beschrieben, wobei die Gebissenen sich meist nur noch an wenige Details erinnern können. Es handelt sich mehr um Stimmungen und starke Gefühle, die in ihnen nachschwingen. Das hier ist etwas völlig anderes. Eine solch ungewöhnliche Bindung zwischen Vampir und Opfer ist mir bislang noch nicht begegnet.«
»Bezeichnen Sie mich nicht als Opfer«, begehrte Latona auf. »Er hat mich weder hypnotisiert noch mit irgendwelchen geistigen Mächten untertan gemacht. Er war einfach da, wir haben uns unterhalten und ineinander verliebt. Malcolm hat es gar nicht nötig, zu solchen Tricks zu greifen. Ich vertraue ihm und möchte immer bei ihm sein. Ist das in der Liebe nicht ganz normal?«
»Zwischen Menschen schon, aber mit einem Vampir, auf dessen Speisezettel Menschenblut steht?« Bram schüttelte den Kopf. »Latona, sei doch vernünftig. Willst du dein junges Leben wirklich so einfach wegwerfen? Du zwingst mich ja geradezu, mich wie ein Wachhund aufzuführen und jedem deiner Schritte zu folgen.«
»Und wie lange werden Sie das durchhalten, Bram?«, erkundigte sich Latona.
»So lange, bis du zur Vernunft kommst.«
»Dann, fürchte ich, werden Sie sich auf ein langes Dasein als Wachhund einstellen müssen«, rief sie und stürmte hinaus.
Franz Leopold strich um das Palais herum und ließ seinen Blick immer wieder zu den wenigen erleuchteten Fenstern hinaufwandern. Er hätte nicht gedacht, dass Luciano den Mut besaß, ins Haus einzudringen und das Mädchen dort aufzusuchen.
Noch eine Runde um den Block. Wo blieb er nur? Was zum Teufel machte er so lange? Anscheinend hatte sie ihn in Gnade wieder aufgenommen, obwohl sie so lange nicht mehr bei ihrem Treffpunkt erschienen war. Weil sie nicht kommen wollte oder weil sie nicht kommen konnte?
Franz Leopold fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut. Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, das Mädchen zu treffen, und noch weniger, die Beherrschung zu verlieren! Er hatte sie ganz schön geschwächt, aber immerhin war es ihm rechtzeitig gelungen, von ihr abzulassen und weder ihrem noch seinem Dasein ein frühzeitiges Ende zu bereiten. Ein wenig bang fragte er sich, woran sie sich noch erinnern konnte - und was sie Luciano erzählen würde.
Wenn der Nosferas von diesem Verrat erfuhr, dann würde sich Franz Leopold wohl einem Duell stellen müssen. Früher wäre Luciano zu feige gewesen, einen Dracas zu fordern, doch heute würde er keine Sekunde zögern, da war sich Franz Leopold sicher. Ein Kampf mit Schwert oder Degen bis zum bitteren Ende? Davor fürchtete er sich nicht. Er war Luciano überlegen. Dennoch hoffte er, dass es nicht so weit kommen würde. Er wollte Luciano nicht vernichten müssen. Sie waren doch Freunde - oder konnte dieser Verrat nicht wieder gutgemacht werden?
Franz Leopold seufzte. Was war nur in ihn gefahren, so etwas zu tun? Er wusste es, doch es fiel ihm schwer, es sich einzugestehen. Eifersucht und Neid. Keine schönen Motive. Seine Überheblichkeit
hatte ihn so weit getrieben. Hatte ihm Alisa nicht immer wieder prophezeit, er werde seine Haltung eines Tages bereuen?
Die Dracas waren allen anderen Familien überlegen. Davon war Franz Leopold nach wie vor überzeugt. Aber sprach es von wahrer Überlegenheit, einem Freund mit Lügen und geistigen Kräften ein Mädchen wegzunehmen? Er wollte gar nicht wissen, was Alisa und Ivy darüber dachten.
Franz Leopold hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Es war müßig, jetzt darüber nachzugrübeln. Die Zeit würde zeigen, ob ihre Freundschaft noch zu retten war oder ob von nun an jeder seine eigenen Wege gehen würde.
Der Dracas war wieder einmal vor dem Haupttor angelangt. Er blieb stehen. Seine Hand drückte gegen den Torflügel. Er war nicht verschlossen. Hatte Luciano ihn offen gelassen? Vermutlich. Franz Leopold schlüpfte in die überwölbte Einfahrt und schritt dann weiter bis in den Hof.
Wo war Luciano
Weitere Kostenlose Bücher