Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
erst wieder lösen würde, wenn sich die Sonne am Abend verabschiedet hatte.
***
Ihr erster Gedanke war Schmerz. Es war nicht das Bein, das ihr noch Probleme bereitete. Es war ihr kaltes Herz, das sich zusammenzog, als ihr bewusst wurde, dass sie allein in dem Sarg lag. Sie hatte sich in den wenigen Monaten schon so an seine Anwesenheit gewöhnt, an das Gefühl, seinen Körper neben sich zu spüren, an seinen Arm, der sie an sich drückte, an seine Stimme, die das Erste war, das sie am Abend hörte. Nun begann die Nacht mit einer tiefen Leere und war kälter, als es das Wasser der Lagune je hätte sein können.
Alisa erhob sich und sah sich auf dem Dachboden um. Nein, er war nicht gekommen. Wie hätte er das bei Tag auch schaffen sollen?
Tammo und Hindrik hatten sich ebenfalls erhoben und sahen ernst drein. Das Mädchen, das Tammo gefangen genommen hatte, saß schweigend in ihrem offenen Sarg und vermied es, einen der Vampire anzusehen. Vermutlich ahnte sie, dass es in dieser Situation besser für sie war, nicht deren Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Hindrik trat zu Alisa und legte ihr den Arm um die Schultern. »Sie werden bald kommen. Sie müssen ja erst von ihrem Versteck, wo sie den Tag verbracht haben, hierher zurückkehren.«
»Ich weiß. Das werden sie, wenn sie nicht in eine Falle gelaufen sind. Wenn sie nicht gefangen genommen wurden und wie Clarissa irgendwo versteckt gehalten werden.«
Nun richteten sich die Augen der Vampire auf Nicoletta. Tammo kniete sich neben sie und löste ihr die Fesseln. Die Oscuro verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine trotzige Miene, vielleicht um ihre Furcht zu verbergen.
»Was seht ihr mich so an? Ich kann dazu nichts sagen. Ich war nicht dabei. Ich wurde überwältigt und gegen meinen Willen hierher verschleppt!«
»Das ist richtig«, bestätigte Hindrik, »aber du kennst das Versteck deiner Sippe und kannst uns verraten, wo die drei womöglich gefangen gehalten werden.«
Nicoletta schüttelte den Kopf. »Die Oscuri haben nicht ein Versteck. Wir haben über ganz Venedig, ja, über die ganze Lagune verteilt unsere sicheren Häuser und Häfen. Falls sich eure Freunde haben einfangen lassen, kann ich unmöglich sagen, wo sie sich jetzt befinden.«
»Aber du könntest damit anfangen, die wahrscheinlichsten Orte aufzuzählen«, schlug Hindrik so betont liebenswürdig vor, dass es Alisa schauderte. Auch Nicoletta war die Drohung nicht verborgen geblieben. Für einen Moment erkannte Alisa ihre Furcht, doch dann hatte sie sich wieder im Griff.
»Es tut mir leid, ich bin verwirrt. Ich bin zweimal ausgesaugt worden und dabei fast gestorben. Ich fühle mich schwach und kann nicht klar denken.«
Mit einem betonten Seufzer schloss sie die Augen und ließ sich in den Sarg zurücksinken.
Natürlich war das eine Lüge. Zumindest zum Teil. Das Mädchen war geschwächt, doch Alisa war sich sicher, dass sie durchaus nicht an Gedächtnisverlust litt. Sie griff zu dieser Lüge, damit sie nicht versuchen sollten, die Wahrheit mit Gewalt aus ihr herauszuholen. Alisa spürte, dass sich Nicoletta davor fürchtete, sie aber auch wild entschlossen war, die seit Generationen gewahrten Geheimnisse ihres Clans nicht zu verraten.
»Die markiert doch«, rief Tammo ärgerlich.
»Vermutlich«, stimmte ihm Hindrik zu, »aber noch würde ich davon abraten, mit Methoden der Folter ihre Zunge zu lösen. Vielleicht kommt sie selbst zur Vernunft.«
Alisa sah, wie das Mädchen zusammenzuckte. Sie hatte Hindriks Worte wohl vernommen. Vielleicht würde die Angst sie zum Reden bringen. Sie zu quälen, kam nicht infrage. Das wollte auch Hindrik nicht, so gut kannte sie den Vamalia. Er hoffte wie sie, dass die Drohung allein wirken würde, doch vorläufig stellte sich das Mädchen schlafend. Eine gute Taktik. Alisa versuchte noch einmal, in ihren Geist einzudringen, doch mehr als ein paar verschwommene Bilder konnte sie nicht finden. War das etwa Clarissa gewesen, die kurz in ihrer Erinnerung aufgeblitzt war?
Nein, das konnte nicht sein. Die Gefühle passten nicht. Es musste sich um jemand handeln, der dem Mädchen nahe gestanden hatte und dem etwas Schreckliches zugestoßen war, sodass ihr Gewissen sie nicht mehr ruhen ließ.
Alisa überlegte, ob sie sie stören und weiter bedrängen sollte. Vielleicht konnte sie, selbst wenn das Mädchen störrisch blieb, Hinweise auf die anderen Verstecke der Oscuri erhaschen. Sie beschloss gerade, es zu versuchen, als sie etwas spürte, das sie
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