Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
nun genau dort, wo er mich haben wollte! Er nötigte mir das Versprechen ab, mich jede Woche mit ihm im Caffè Florian zu treffen und ihm zu sagen, wie es mir ginge. Das schien mir gerechtfertigt und ein geringer Preis, auch wenn er von mir Stillschweigen forderte.«
»Sie sind heimlich zu den Treffen gegangen?«
Doriana seufzte noch einmal und nickte. »Ein ganzes Jahr lang.«
»Ihr Geliebter hat nie davon erfahren?«
»Ich weiß es nicht. Zumindest hat er es nie erwähnt. Er schlief den Vormittag über, sodass er nicht bemerkte, wenn ich das Haus verließ. Ich war stets wieder zurück, ehe er erwachte.«
»Und was haben Sie dem Conte alles erzählt?«, wollte Clarissa wissen.
»Nicht das, was Sie vermuten!«, fuhr Doriana sie ein wenig barsch an. »Ich habe meinen Geliebten nicht verraten. Das dachte ich zumindest«, fügte sie traurig hinzu.
»Was ist passiert?«
»In einer Nacht, nachdem ich den Conte getroffen und so unbedacht mit ihm geplaudert hatte, sind die Brüder meines Geliebten bei einem ihrer nächtlichen Raubzüge in eine Falle gelaufen, die sehr raffiniert geplant worden war. Sie entkamen im letzten Moment. Aber dann umstellte die Polizei unser Haus, in dem ich hochschwanger kurz vor der Niederkunft hilflos in meinem Bett lag.« Tränen standen in ihren Augen. »Er wollte nicht von meiner Seite weichen, aber das wäre sein Ende gewesen. Ich habe ihn angefleht, mich zurückzulassen, doch es brauchte die Kraft seines Bruders und seiner beiden Neffen, ihn von mir zu reißen und ihn in Sicherheit zu bringen.«
Clarissa spürte die Spannung, die in ihr aufstieg. »Ist es ihm gelungen, der Polizei zu entkommen?«
Doriana nickte. »Ja«, hauchte sie nur.
»Und was geschah mit Ihnen?«
Die schöne Frau lachte hart auf. »Oh, wenn es nach der Polizei gegangen wäre, hätte ich mein Kind in einer finsteren Gefängniszelle zur Welt gebracht, aber dann stand plötzlich der Conte in meinem Zimmer, und ich begriff. Oder glaubte zumindest zu begreifen.« Sie seufzte. »Er brachte mich wieder in sein Haus, wo meine Tochter zur Welt kam.«
»Und ihr Geliebter?«, drängte Clarissa. »Hat er Sie einfach so vergessen?«
Ein Lächeln erhellte ihre Züge. »Oh nein! Bereits in der Nacht nach der Niederkunft stand er plötzlich an meinem Bett, ich aber war zu schwach, um mit ihm zu gehen. Und so kam er immer wieder, trotz der Gefahr. Der Conte hat ihm mehr als nur eine Falle gestellt, doch er entkam ihnen stets. Ich fürchtete um ihn, er aber verlachte meine Ängste und ließ sich nicht abhalten, uns immer wieder zu besuchen, bis wir stark genug waren, mit ihm zu gehen. Er wartete einen günstigen Moment ab, als der Conte nicht zu Hause war, um mich und das Kind zu sich zu holen und in ein neues, sicheres Haus zu bringen.«
»Und der Conte?«
»Ich habe ihn nicht wiedergesehen. Ich lebte mit meiner Tochter in Frieden und Sicherheit und sah sie wachsen und gedeihen.«
Ihre Worte klangen schön, und doch war in ihrer Stimme ein bitterer Unterton. Clarissa sah in das so schöne, traurige Gesicht. Irgendetwas musste geschehen sein. Irgendetwas, das diese Idylle grausam zerstört hatte.
»Aber wie sind Sie dann hier an diesen Ort gekommen und warum sind Sie noch immer hier?«
Doriana wandte sich ab. »Gehen Sie jetzt. Ich bin müde. Es bekommt mir nicht, in die Vergangenheit zurückzukehren.«
Widerstrebend folgte Clarissa der Aufforderung und verabschiedete sich, doch sie nahm sich vor, wiederzukommen. Sie wollte unbedingt auch noch das Ende der Geschichte hören.
***
Es war kurz vor Sonnenaufgang, als die Erben zu ihrem Versteck auf dem Dachboden zurückkehrten. Unten auf dem Campo entdeckten sie Anna Christina und Hindrik. Es wunderte keinen von ihnen, dass Hindrik mit Paketen überladen war. Anna Christina dagegen trug lediglich ein kleines Päckchen. Sie war in ein neues Kleid und einen schimmernden Umhang gehüllt.
Drei Möwen landeten zu ihren Füßen und wandelten sich in ihre eigene Gestalt zurück. Gemeinsam überquerten die Vampire den Kanal und betraten das heruntergekommene Mietshaus. Alisa ahnte, noch ehe sie die Treppe erklommen hatte, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie beschleunigte ihre Schritte, flog geradezu die Stufen hinauf und stieß die Tür auf. Hektisch huschte ihr Blick über den Dachboden.
Er war leer.
Die Särge und Kisten standen noch da, doch es war weder ein Mensch noch ein Vampir zu entdecken. Leo schob sich hinter ihr durch die Tür. Auch er erfasste die Lage mit einem
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