Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Wir müssen sie einholen und Tammo befreien!«
Leo griff nach ihrem Arm. »Das bringt doch nichts. Die Sonne ist nicht mehr fern. Wir können jetzt nicht kopflos in alle Richtungen laufen, ohne zu wissen, wo wir den Tag über Schutz finden.«
»Das ist mir egal!«, rief sie. »Er ist mein Bruder. Ich muss ihn retten. Wenn ihr nicht wollt und zu feige seid, dann gehe ich eben allein.«
Leo umfasste ihre Hand. »Sei nicht dumm. Wir müssen überlegt vorgehen, sonst machen wir uns zur leichten Beute.«
»Du hast ja nur Angst um deine zarte Haut«, schrie Alisa und riss sich los. »Du bist ein Feigling.« Sie stürzte davon und rannte die Treppe hinunter.
Anna Christina griff nach Leos Arm. » Nein, du wirst ihr jetzt nicht nachlaufen und dich ebenfalls in Gefahr bringen.«
Leo biss die Zähne zusammen, dass seine Wangenknochen scharf hervortraten, doch seine Stimme war beherrscht. »Nein, keine Angst, sie muss selbst zur Vernunft kommen. Manches Mal könnte ich sie erwürgen! Wie kann man nur so unvernünftig reagieren? Als ob das Tammo irgendwie helfen könnte, wenn sie jetzt in den Morgen hinausläuft.«
»Du wirst sie also nicht zurückholen?«, mischte sich Hindrik ein.
»Nein!«, beharrte Leo. »Sie muss selbst einsehen, wie dumm ihre Reaktion ist. Wir werden uns eine Strategie überlegen und uns nach Einbruch der Dunkelheit auf die Suche machen.«
»So lange kann ich nicht warten. Ich werde nicht zulassen, dass sich Alisa in Gefahr bringt«, widersprach Hindrik und lief zur Tür.
»Diese Vamalia!«, schimpfte Anna Christina. »Ich habe schon immer gesagt, dass sie zu schwach sind, um lange zu überleben. Sie geben sich menschlichen Gefühlen hin, statt sich auf ihren Verstand und die Instinkte der Vampire zu verlassen. Das wird ihr Schicksal besiegeln.«
Lucianos Blick wanderte unbehaglich zwischen den beiden Dracas und der Tür hin und her, die leise knarrend in den Angeln schwang und dann, von einem Windstoß gezogen, mit einem Krachen ins Schloss fiel.
»Sollen wir sie wirklich allein lassen?«, fragte er leise. »Sie ist in einer gefährlichen Stimmung. Für andere, aber auch für sich selbst.«
Leo nickte grimmig. »Ja, das kenne ich nur zu gut, doch vielleicht wird sie allein dort draußen am schnellsten zur Vernunft kommen. Wohin will sie denn? Es wird gleich Tag.«
»Sie ist nicht allein. Hindrik ist bei ihr«, erinnerte Anna Christina.
»Ja und? Er wird beim ersten Sonnenstrahl in sich zusammensacken und ihr keine große Hilfe sein!«, widersprach Luciano. Leo unterbrach ihn.
»Ah, da kommen sie schon zurück. Spürst du es nicht? Es kommt jemand die Treppe hoch.«
Doch es war nur Hindrik, der ein wenig schwankend durch die Tür trat.
»Sie hat sich gewandelt und ist weggeflogen«, sagte er undeutlich. »Ich konnte ihr nicht folgen.« Dann verdrehte er die Augen und sackte zusammen, im gleichen Moment, da auch Anna Christina in ihre Todesstarre verfiel.
Luciano und Leo sahen einander an.
»Hoffentlich hat sie sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht«, murmelte Luciano. »Die Vorstellung, dass die Strahlen der aufgehenden Sonne sie im Flug getroffen haben könnten, macht mich ganz schwindelig.«
»Das ist nur der Ruf deiner Natur«, widersprach Leo mit dieser kalten Stimme, die Luciano schon lange nicht mehr gehört hatte. »Leg dich hin und schlaf. Was anderes können wir jetzt nicht tun.«
Er beugte sich über seine Cousine, hob sie hoch und bettete sie in einen der Särge. Dann ließ er den Deckel zufallen. Luciano trat mit unsicherem Schritt zu seiner nach Fisch stinkenden Kiste.
»Machst du dir nicht schreckliche Sorgen um Alisa?«
»Nein«, behauptete Leo. Sein Blick war hart. »Ich bin nur wütend und male mir aus, wie ich ihr das Fell über die Ohren ziehe, wenn sie mir in die Finger kommt!«
Er stieg ohne ein weiteres Wort in seinen Sarg und schlug den Deckel zu. Luciano blieb in seiner offenen Kiste sitzen und starrte zu dem Sarg hinüber, aus dem kein Laut mehr drang. Leo schlief vermutlich schon. Luciano schüttelte fassungslos den Kopf. Wie konnte Leo das so leicht nehmen? Fürchtete er nicht um Alisa? War er so erzürnt, dass sie ihm völlig egal war? Oder war seine Liebe so zerbrechlich, dass dieser Streit ausreichte, ihn wieder zu dem ekelhaften Dracas werden zu lassen, unter dessen ätzender Zunge Luciano jahrelang gelitten hatte?
Luciano war sich nicht sicher. Das Einzige, was er wusste, war, dass er selbst seine Clarissa bis in alle Ewigkeit lieben und niemals
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