Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
nicht, ob sie tot ist oder noch lebt?«
Calvino schüttelte den Kopf. »Nein. Sie verschwand einfach, und ich kann keine Antwort auf die marternden Fragen finden: Hat sie uns verlassen oder ist ihr ein schrecklicher Unfall widerfahren? Oder wurde sie entführt? Wenn ja, von wem? Vom Conte und seinen Freunden bei der Polizei? Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.«
»Wir beschlossen, es sei am besten für dich, in der Familie aufzuwachsen. Valentina war bereit, dich als Tochter anzunehmen, und keiner sollte Doriana jemals wieder erwähnen.«
Er beendete die Erzählung mit einem traurigen Lächeln. Stille senkte sich über den Raum. Nicoletta schüttelte fassungslos den Kopf. Sie merkte kaum, dass sie aufsprang und zur Tür zurückwich.
»Und das habt ihr mir all die Jahre verheimlicht?« Sie konnte es nicht fassen.
Ihr Vater hob kraftlos die Hand. »Bleib! Lass es mich erklären«, doch Nicoletta wich weiter zurück. Sie wollte keinen von ihnen mehr sehen. Sie musste allein sein und ihre Gedanken ordnen. Mit einer hastigen Bewegung drehte sie sich auf dem Absatz um und stürmte davon, die Treppe hinunter, hinaus und dann den Kai am Darsena Grande, dem großen Hafenbecken der Werft, entlang. Sie spürte kaum, dass ihr Tränen über die Wangen rannen und sie gequälte Schluchzer ausstieß.
Lüge, alles Lüge. Ihr ganzes bisheriges Leben war eine einzige Lüge gewesen.
***
Leo sprang als Erster aus seinem Sarg. Er sah sich um und stieß dann einen Seufzer aus. Hindrik klappte den Deckel seiner Kiste auf. Auch die anderen erwachten und gesellten sich zu ihnen.
»Sie ist nicht zurückgekehrt«, stellte er fest.
Leo schüttelte den Kopf. »Nein. Nun fehlen Clarissa, Tammo und Alisa.« Er seufzte tief, und in seiner Miene blitzte so etwas wie Unsicherheit auf, doch er straffte die Schultern und bemühte sich um eine abweisende Miene. »Wir schaffen es ganz hervorragend, uns selbst zu schwächen und den Larvalesti alle Vorteile in die Hand zu spielen. Warum vernichten wir uns nicht gleich selbst? Dann haben wir für sie ihr Problem gelöst, und sie können wieder in Ruhe reiche Venezianer und alle Touristen ausrauben, die ihnen in die Finger kommen.«
Hindrik sah ihn an. »Was wirst du unternehmen?«
Leo hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Wir werden weiter versuchen, Clarissa zu finden. Das war und ist unser vorderstes Ziel, das nun um die Suche nach Tammo erweitert wird.«
»Und Alisa?«, wagte Luciano einzuwerfen.
Leo seufzte noch einmal. »Alisa muss selbst zur Einsicht kommen, wie dumm ihre Reaktion war. Wir sind nicht ihr Kindermädchen. Ich werde nachsichtig sein, wenn sie zurückkommt und sich entschuldigt.« Seine Worte klangen hart, doch es schwang auch ein Schmerz darin, den er nicht ganz unterdrücken konnte.
»Das wird sie nicht tun, ich meine, sich entschuldigen«, gab Luciano zu bedenken.
»Dann hat sie sich die Folgen eben selbst zuzuschreiben«, sagte Leo mit betont kalter Stimme. »Sie muss einsehen, wie kindisch ihr Verhalten ist. Sie bringt uns damit alle in Gefahr.«
»Es geht um ihren Bruder!«, erinnerte ihn Luciano.
»Bruder oder nicht, wir alle sind Vampire und stehen füreinander ein, doch überlegt und mit Plan, und nicht kopflos ohne Sinn und Verstand. Wenn sie noch so unreif ist, das nicht zu verstehen, dann kann ich ihr leider auch nicht helfen.«
»Ich finde deine Ansichten sehr vernünftig«, mischte sich Anna Christina ein.
»Das haben wir nicht anders erwartet«, brauste Luciano auf.
Sie zuckte lediglich mit der Schulter und gab ihm auch ohne Worte zu verstehen, wie unwichtig ihr seine Meinung war. Und für Leo schien das Thema ebenfalls erledigt. Er holte tief Luft. Es schien ihm schwerzufallen, sich zu konzentrieren. Dann aber klatschte er in die Hände.
»Gut, wie gehen wir heute Nacht vor, um unsere beiden Vermissten zu finden? Hat jemand einen genialen Vorschlag, auf den wir bislang nicht gekommen sind?«
»Ich bin dafür, dass wir zuerst Alisa suchen und dann alle zusammen weiter gegen die Larvalesti vorgehen«, sagte Luciano leise, aber bestimmt. Hindrik stellte sich an seine Seite und nickte zustimmend.
»Ja, es ist nicht gut, wenn wir uns aufsplitten.«
»Der Meinung sind alle!«, rief Leo in scharfem Ton. »Außer vielleicht unsere Dame Alisa.« Er sah zu seiner Cousine hinüber.
»Mir ist es gleich, ob wir unsere Zeit damit verschwenden, eine Vamalia oder eine Unreine zu suchen.«
»Wenn ihr meint, dann laufen wir eben der verrückten
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