Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
niesen.
Verflucht! Nicoletta und ihr Pulver. Er hatte ganz vergessen, dass er am Morgen eine ganz ordentliche Ladung davon abbekommen hatte.
Tammo trat ins Freie, als die ersten Tropfen fielen. Noch ehe er das Ufer erreichte, wo am Ende der Nacht die Gondel angelandet hatte, rauschte bereits der Regen in dichten Schleiern herab und durchnässte ihn bis auf die Haut. Er blieb am schlammigen Ufer stehen, gegen das im gleichmäßigen Takt die Wellen schlugen. Natürlich war das Boot verschwunden. Wie sonst hätte Nicoletta nach Venedig zurückkehren sollen, und ein anderes gab es nicht. Das war Tammo klar, auch ohne das gesamte Ufer abzusuchen. Hier auf dieser Insel gab es nichts außer Schlamm und Sand, Gras und ein paar Sträucher und die Ruinen des Lazaretts.
Sein Blick wanderte zu der anderen Insel hinüber, die er schon bei ihrer Ankunft bemerkt hatte. Er versuchte die Entfernung abzuschätzen. Wenn er sich doch nur wandeln könnte! Dann wäre das alles kein Problem. Doch die Erfahrung mit dem geheimnisvollen Pulver hatte gezeigt, dass es nicht ratsam war, Experimente zu wagen. Vor allem nicht, wenn man sich allein auf einer einsamen Insel befand und kein anderer Vampir in der Nähe war, der einem zur Not mit seinen Kräften würde weiterhelfen können.
Er sah wieder zu der Insel hinüber. Hatte er nicht den Schatten eines Gedankens in Nicolettas Geist wahrgenommen? Er hatte sie nach Clarissa gefragt, und da war etwas aufgeblitzt. Er verfluchte den Schutz, der den Geist der Larvalesti umgab, den die Vampire nicht durchdringen konnten, und dennoch war er sich plötzlich sicher, dass sie bei seiner Frage ihren Geist auf diese Insel ausgerichtet hatte.
War Clarissa dort drüben? Gut möglich. Sie hatte beide Vampire in den Teil der Lagune gebracht, den die Oscuri gewöhnlich nicht aufsuchten. Tammo kniff die Augen zusammen. Er glaubte, einen schwachen Lichtschein ausmachen zu können. War die Insel noch von Menschen bewohnt? Was waren das für Gebäude? Hatte man auch auf diese Insel Pestkranke abgeschoben?
Dafür schien ihm der Komplex zu massig, die Kirche zu groß. Nein, das sah eher wie ein Kloster aus, das vermutlich heute einem anderen Zweck diente, wie so viele, nachdem Napoleon die meisten Konvente aufgelöst hatte. Egal. Jedenfalls war das die einzige Insel in der Nähe, die er, solange es dunkel war, würde erreichen können.
Hoffte Tammo zumindest.
Es war schwer, die Entfernung einzuschätzen, und er konnte auch nicht sagen, wie schnell er im Wasser vorankommen würde. Er schwamm nicht gerade oft, und er wusste nicht, ob dieses vermaledeite Pulver ihm weiterhin seine Kräfte raubte. Jedenfalls war das die einzige Möglichkeit, die ihm einfiel, wollte er nicht die ganze Nacht hier herumsitzen und warten, ob sich Nicoletta wieder sehen ließ oder nicht.
Inzwischen goss es so stark, dass er die Insel kaum mehr erkennen konnte, und das Wasser schwappte unruhig gegen das Ufer, als würde es von einem unsichtbaren Schneebesen durcheinandergewirbelt. Tammo seufzte. Wollte er sich das wirklich antun?
Die Neugier siegte. Er wollte Clarissa finden, und sein Instinkt sagte ihm, dort drüben würde er fündig werden. Und wenn nicht, so war die Chance, dort ein Boot aufzutreiben, mit dem er nach Venedig zurückkehren konnte, jedenfalls größer als auf diesem einsamen Sandhaufen.
Schritt für Schritt watete Tammo ins Wasser, das rasch tiefer wurde. Schon reichte es ihm über die Schenkel und dann an die Hüften. Beim nächsten Schritt schwappten die Wellen gegen seine Schultern. Er begann die Arme und Beine zu bewegen.
Schwimmen. Was für eine elendige Art, sich fortzubewegen – wenn man kein Fisch war. Fliegen, ja, das war etwas anderes. Das war eines Vampirs würdig! Missmutig schwamm er weiter. Er spürte den nagenden Hunger und dachte daran, dass er in der letzten Nacht nicht getrunken hatte, und auch jetzt stand nichts in Aussicht. Das kostete Kraft!
Tammo biss die Zähne zusammen und schwamm weiter auf den schwachen Schatten zu, der sich durch den Regen am wolkenverhangenen Nachthimmel abzeichnete.
Leo und die anderen, so fiel ihm ein, hatten sich im Versteck der Oscuri gewandelt, obgleich auch sie zuvor das Pulver eingeatmet hatten. Wie war ihnen das gelungen? Sie hatten es bestimmt erwähnt, aber Tammo hatte nicht so recht zugehört. Er hatte Nicoletta vor sich gesehen, und dadurch war seine Aufmerksamkeit wohl ein wenig abgelenkt. Nun verfluchte er sich für seine Unaufmerksamkeit, die er jetzt
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