Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Verwirrung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab und auch ein wenig Furcht, doch da war zugleich ein Strahlen, das sie wie eine Wolke umgab.
»Tammo«, hauchte sie nur und küsste ihn noch einmal ganz zärtlich. Sie lächelte glückselig und war so schön wie nie in seinen Augen. Dann wurde ihre Miene unendlich traurig.
»Du wirst mich nicht mehr mögen, wenn du erst weißt, was ich getan habe«, gestand sie leise.
Er drückte sie gegen seine Brust. »Das ist nicht möglich«, behauptete Tammo fest. Er war selbst noch ganz verwirrt von den überwältigenden Gefühlen, die ihn wie die Wogen der Lagune zuvor überrollten und ihn hilflos hin- und herwarfen. Sie ängstigten ihn ein wenig. So starke Gefühle waren gefährlich. Sie machten verwundbar und schwach, und doch hätte er sie nicht wieder missen wollen. War das nicht noch aufregender und schöner als der Geschmack von Blut auf seiner Zunge?
Er küsste Nicoletta noch einmal. Nun sog er auch ihren Geruch in sich ein und genoss das Aroma, das ihn umfing. Er glaubte, ihr Blut wieder schmecken zu können. Die Versuchung wurde plötzlich übermächtig. Wäre das nicht die Krönung des Genusses? Er spürte seine Reißzähne, die danach drängten, in ihren Hals zu gleiten.
Da stieß Nicoletta einen Schrei aus, der die Spannung zerriss.
»Oh nein! Wir sind abgetrieben. Sieh nur, wie weit wir uns von San Clemente entfernt haben. Oh ihr Heiligen, wie sollen wir das jetzt noch schaffen?«
Für einen Moment war er abgelenkt, und vielleicht war das auch gut so, denn wer könnte schon sagen, was sonst geschehen wäre? Tammo spürte plötzlich, wie die Gezeiten am Rumpf des Bootes zerrten. Er sah auf und ließ Nicoletta los.
Wo war diese verdammte Insel geblieben? Er wandte den Kopf in die Richtung, in die Nicoletta zeigte. Das dort hinten sollte San Clemente sein? Der verblassende Schatten, der kaum noch vor den Regenwolken auszumachen war? Das war nicht möglich! Und doch war im Norden kein anderes Stück Land auszumachen.
Nicoletta sprang auf und griff nach dem Riemen. Tammo nahm sich den anderen und eilte zur vorderen Bank. Unter Nicolettas Kommando tauchten sie die Riemen ein und zogen sie durch das Wasser. Zuerst schlingerte das Boot hin und her, als wollte es sich weigern, seinen Bug nach der Insel auszurichten. Die Strömung war nicht so leicht bereit, ihr Opfer freizugeben!
So ein Blödsinn. Sie mussten nur den rechten Rhythmus finden. Bald war es nicht mehr nötig, laut mitzuzählen, um die Riemen im Gleichklang durch das Wasser zu ziehen. Es hatte aufgehört zu regnen und im Osten erhellte sich bereits der Himmel. Tammo fluchte leise vor sich hin, während Nicolettas Augen starr vor Furcht wurden.
»Oh bitte, nicht noch einmal«, flüsterte sie. »Nicht auch noch er.«
Tammo versuchte, seine Ohren zu verschließen und seinen Geist vor dem Sinn der Worte zu bewahren. Stattdessen ruderte er verbissen weiter. Langsam kamen sie der Insel näher. Die Konturen des Klosters wurden schärfer, doch noch schneller erhellte sich der Himmel. Der Wind blies die Regenwolken davon. Es würde einen großartigen Sonnenaufgang geben. Der erste und der letzte, den Tammos Augen sehen würden!
Er wandte seinen Blick vom Himmel auf das aufgewühlte Wasser und konzentrierte sich auf das Rudern. Er spürte, wie seine Muskeln arbeiteten, sich im Wechsel der Ruderschläge anspannten und wieder lockerließen. Doch genauso bewusst war ihm, dass Nicoletta der totalen Erschöpfung nahe war. Er roch ihren Schweiß und ihre Furcht, und wieder war der Drang, sie in seine Arme zu schließen, so groß, dass er ihm kaum widerstehen konnte.
Doch er ruderte weiter, immer weiter, während sich die Wolken erst rosa und dann feuerrot färbten. Das Ufer war kaum mehr hundert Schritte entfernt, als Nicoletta einen Schrei ausstieß, der Tammo zusammen mit einem heißen Schmerz durch den ganzen Körper fuhr. Ein gleißender Strahl schob sich über den Horizont und setzte die Welt in Flammen.
»Schnell!«, schrie Nicoletta und stürzte nach hinten. Sie riss den Deckel der für Waren eingebauten Kiste auf. Mit einem großen Sprung rettete sich Tammo in ihren Schutz. Mit fahrigen Bewegungen klappte Nicoletta die Kiste zu.
»Wirst du es allein schaffen?«, fragte er besorgt.
»Ja, keine Sorge. Die Strömung hat nachgelassen. Wir nähern uns dem Scheidepunkt der Gezeiten. Lass du nur den Deckel geschlossen. Ich werde uns einen sicheren Hafen suchen.«
Sie war so fest entschlossen, dass ein Scheitern
Weitere Kostenlose Bücher