Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
sei doch vernünftig. Warum willst du zu dieser Insel? Das hilft dir nicht weiter. Steig ein, und ich bringe dich nach Venedig zurück.«
»Ich will aber jetzt dorthin, wo ich Clarissa finde!«
Nicoletta schwieg, und er spürte ihre Verblüffung, mit der sie auf ihn herabstarrte. Also war seine Vermutung richtig! Die Bestätigung seines Verdachts ließ ihn sein Tempo noch einmal steigern. Er musste diese verdammte Insel erreichen, ehe es Tag wurde!
Nicoletta schien mit sich zu hadern, ließ aber nicht nach und ruderte wie besessen neben ihm her.
»Nun gut, ja, ich habe Clarissa nach San Clemente gebracht, und ich denke, sie ist noch immer dort. Deshalb bin ich auf dem Weg dorthin. Ich hoffe, sie ist wohlauf, nachdem ich die vergangenen Nächte keine Gelegenheit hatte, nach ihr zu sehen.«
Tammo hörte den Vorwurf in ihrer Stimme, aber auch eine Besorgnis, die seinen Zorn ein wenig besänftigte. Doch er wehrte sich dagegen. Er wollte ihr böse sein!
»Du meinst, das ist alles meine Schuld? Willst du mir das damit sagen? Dass ich die Verantwortung trage, wenn ihr etwas zugestoßen ist?«
»Nein!«, rief sie. »Nicht die Schuld, nur der Grund. Du hast mich gefangen genommen.«
»Ja, weil ihr Clarissa entführt habt!«
»Das wäre nicht passiert, wenn sie und ihr Freund Luciano die Warnung der Oscuri ernst genommen und den Palazzo Dario verlassen hätten.«
»Du meinst also, wir Vampire haben uns die ganze Misere selbst zuzuschreiben?«
Nicoletta stieß einen Ruf aus, der nach Verzweiflung klang. »Müssen wir denn immer nach der Schuld fragen? Was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, ganz egal, wie sehr die Reue uns auch zerfrisst. Wir müssen in die Zukunft sehen und dort nach Lösungen suchen.«
Da war es wieder, was er in der Nacht zuvor bereits gespürt hatte. Das namenlose Entsetzen, begleitet von einer Gestalt, die Tammo nicht kannte. – Die er nicht wiedererkannte?
Nicoletta ließ die Arme sinken. Der Riemen senkte sich ins Wasser. Die Strömung erfasste das Boot und trieb es nach Süden. Tammo hielt inne, den Blick auf ihr Gesicht gerichtet. Was für ein Grauen spiegelte sich da in ihrer Miene? Er war sich nicht sicher, ob er es so genau wissen wollte, und dennoch ergriff er mit beiden Händen die Bootskante. Mit einem Schwung stemmte er sich ins Boot. Nicolettas Augen schwammen nun in Tränen. Sie rutschte kraftlos auf die Knie und senkte den Kopf, dass die nassen Locken über ihr Gesicht fielen.
Tammos Zorn erlosch. Zögernd näherte er sich dem Mädchen, dessen ganzer Körper in Verzweiflung zu schreien schien. Er spürte, wie Schuldgefühle sie zerfraßen.
Was hatte sie getan?
Egal. Er konnte es nicht länger ertragen, sie so zu sehen. Er nahm ihr sanft den Riemen aus den Händen, legte ihn ins Boot und schlang dann seine Arme um das Mädchen. Nicolettas Körper versteifte sich, und sie versuchte halbherzig, sich von ihm zu lösen, doch dann ließ ein Schluchzer ihren Körper erzittern, und sie sank an seine Brust. Ihre warmen Tränen tränkten sein Hemd und vermischten sich mit dem Wasser der Lagune und des Regens. Er streichelte sanft ihren Rücken, zog sie näher an sich und wiegte sie wie ein Kind. Sie zitterte noch stärker, doch dann endlich versiegten ihre Tränen, und sie hob zögernd den Kopf.
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er sie in diesem Zustand vermutlich nicht mehr schön gefunden. Das nasse Haar klebte an ihren vor Kälte geröteten Wangen und ihre Augen schwammen noch in Tränen. Eigentlich sah sie eher erbärmlich aus, wie sie da zitternd in seinen Armen lag, doch etwas geschah mit ihm, das Tammo nicht erklären konnte. War es ihr warmer Körper, der sich an seine Brust presste, ihre Arme um seinen Hals, der bezwingende Blick aus diesen herrlichen Augen? Er wusste es nicht. Er spürte nur die fremde Macht, die ihn ergriff und der er sich nicht erwehren konnte. Gegen die er sich gar nicht wehren wollte. Sie zog ihn an wie Eisen einen Magneten. Er würde Nicoletta nie wieder loslassen! Er wollte sie noch näher an sich spüren. Tammo beugte sich vor, bis seine Lippen die ihren berührten. Er verharrte, bis sie aufhörten zu beben und sich unter seinem Kuss entspannten. Sie seufzte leise und klammerte sich noch stärker an seinen Hals, während er sie wieder und wieder küsste, bis sie mit beiden Händen gegen seine Brust drückte und ihr Gesicht zur Seite drehte. Keuchend holte sie Luft, dann wandte sie sich ihm wieder zu.
Weitere Kostenlose Bücher