Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
waren wie ein Hauch, der Tammo eisig durchfuhr. »Was ist passiert? Wann ist das geschehen?«
»Am Morgen, nachdem mein Onkel Leone und ich sie aus dem Palazzo Dario entführt haben.«
Leise begann Nicoletta zu erzählen. Tammo sank neben Clarissa auf das Bett. Er hatte das Gefühl, sich nicht mehr länger auf den Beinen halten zu können. So saß er ganz dicht neben ihren angewinkelten Beinen, mied es aber, Clarissa anzusehen. Das grausig verbrannte Gesicht mit den verkohlten Haarresten war mehr, als er ertragen konnte. Er war nicht wie Luciano verliebt in sie, ja, er hätte sich vielleicht nicht einmal als ihren Freund bezeichnet. Sie waren zu verschieden und kannten sich nicht sehr gut. Und dennoch gehörte sie zu ihnen, und das grausame Schicksal traf ihn mehr, als er erwartet hätte.
Endlich schwieg Nicoletta, nachdem sie noch einmal betont hatte, wie leid ihr das alles tat.
Tammo schüttelte den Kopf. Er konnte das nicht begreifen. »Und sie sieht seit dem ersten Tag so aus?«
Nicoletta nickte. »Ja, es gibt kaum eine Veränderung.«
»Das verstehe ich nicht«, rief er und hob die Hände. »Sie ist eine Unreine. Alle Wunden müssten während ihrer Totenstarre über Tag heilen.«
Nicoletta seufzte. »Das hat Clarissa auch gesagt, doch Tage und Nächte verstrichen, ohne dass etwas geschah. Deshalb war sie so verzweifelt, dass sie dachte, es nicht länger ertragen zu können.«
»Hat sie solche Schmerzen?«, wollte Tammo wissen.
Nicoletta hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Davon hat sie nicht gesprochen. Sie wollte nur nicht, dass ihr Freund Luciano sie so sieht. Sie glaubt, er würde den Verlust ihrer Schönheit nicht ertragen.«
Tammo schnaubte durch die Nase. »Na, wenn das ihre einzige Sorge ist, dann werde ich ihr versichern, dass ich mir den Kerl eigenhändig vorknöpfe, wenn er sie deswegen nicht mehr will. Aber so ist Luciano nicht. Sie sollte ihn besser kennen. Die Sonne hat wohl auch ihren Geist verbrannt. So ein dummer Gedanke!«
Nicoletta ließ ihren Blick über die schlafende Clarissa gleiten. Sie konnte sich eines Schauderns nicht erwehren.
»Ich weiß nicht. Ein wenig verstehen kann ich sie schon. Männer lieben und begehren schöne Frauen, das ist der Lauf der Welt. Ist das bei Vampiren anders? Die Schönheit ist das größte Kapital der Frauen, zusammen mit ihrer Jugend, die ebenso vergänglich ist. Sonst bleibt einem nur eine hohe Mitgift, um über andere Mängel hinwegzutrösten. Diese führt jedoch lediglich zur Ehe, nicht aber zu Liebe.
Tammo hörte die Bitterkeit aus ihrer Stimme. Er überlegte.
»Ich weiß nicht«, sagte er unsicher. Er erhob sich und trat auf sie zu. Obwohl es ihm inzwischen schwerfiel, klar zu sehen, war ihr schönes Gesicht doch so eindringlich, dass es ihm fast wehtat. Er hob die Hand und strich sanft über ihre Wange. Mit dem Zeigefinger fuhr er die Kontur ihrer Lippen nach.
»Geld ist uns Vampiren nicht wichtig, das kann ich dir versichern. Wir heiraten auch nicht.«
»Und doch wählt ihr einen Partner und könnt lieben«, beharrte Nicoletta.
Tammo dachte an seine Schwester und an Leo. Er trat noch näher und legte den Arm um sie.
»Ja, manche tun das. Aber es ist sehr kompliziert, und ich weiß nicht, ob man sich wirklich einen Gefallen damit tut. Ohne Liebe ist es sehr viel einfacher«, gestand er, seine Lippen bereits auf den ihren. Er küsste sie.
Das war das Letzte, was er spürte. Dann wurde es dunkel um ihn und er glitt zu Boden.
***
Sie arbeiteten schnell. In Zweierteams schafften die vier Vampire die Beutestücke der Larvalesti über die Kanalbrücke in das Mietshaus auf der anderen Seite und trugen alles auf den Dachboden hinauf. Sie sprachen kein Wort, bis alle Gemälde, Möbel, Teppiche und Ziergegenstände an ihrem neuen Bestimmungsort angelangt waren. Einige kleinere Kisten mit Gold und Schmuckstücken waren auch dabei, allerdings nicht so viele wie draußen auf der Insel. Die Vampire wollten gerade die letzten Stücke schultern, als Hindrik Alarm schlug.
»Da kommt ein Boot. Es scheint mir recht schwer beladen und es hält direkt auf das Wassertor des Palazzo zu.«
»Nun, dann wollen wir ihnen einen schönen Empfang bereiten«, erwiderte Anna Christina mit einem grimmigen Lächeln. Sie lehnte das Bild, das sie in den Armen hielt, gegen die Wand und zog ihren Degen. Leo verschloss die Geheimtür und griff dann ebenfalls zu seiner Waffe. Sie huschten in den Hof hinaus. Hindrik und Luciano zogen sich in den Ballsaal im ersten
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