Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
und sah zum alten Kloster hinüber. Dort drüben am Anleger bei der Kirche musste es irgendwo ein Boot geben. Die Schwestern verließen die Insel sicher ab und zu. Sie musste es nur suchen.
Und dann allein den ganzen Weg zur Stadt hinüberrudern?
Sie spürte, wie sie verzagte. Jede Bewegung bedeutete Schmerz.
Na und? Sie war ein Vampir und konnte das aushalten!
Aber sie hatte noch nie eine Gondel gerudert. Man musste am Heck stehen und die Balance halten, während man das Boot mit nur einem Riemen stets von derselben Seite antrieb. Ihr war nicht klar, wie das funktionieren sollte. Konnte sie so eine weite Strecke schaffen? Es gab unbekannte Strömungen. Befahrbare Kanäle wechselten mit unsichtbaren Untiefen, mit Schlick und Algenfeldern, in denen sie stecken bleiben würde. Das hatte Nicoletta ihr erzählt.
Der Mut verließ Clarissa und sie kehrte mit hängendem Kopf zu ihrem Lager zurück. Selbst wenn sie es schaffen würde, was dann? Konnte sie so, wie sie aussah, durch Venedig wandern und die Personen dieses Dramas aufspüren?
Nein, das war völlig unmöglich. Sie konnte sich ja nicht einmal wie die Erben in ein Tier verwandeln und unbemerkt irgendwo eindringen, um zu lauschen.
Sie brauchte Hilfe.
Die Hilfe der anderen Vampire?
Nein!
Das konnte nicht die einzige Möglichkeit sein.
Nicoletta.
Also doch. Sie war die Einzige, die sonst noch wusste, dass sie hier auf San Clemente war, und die versprochen hatte, wiederzukommen. Clarissa musste nur warten und ihr das Geheimnis anvertrauen. Sie könnten sich gemeinsam auf die Suche nach dem Entführer machen.
Und dann würden sie Doriana befreien und Mutter und Tochter könnten einander glücklich in die Arme sinken.
Das Bild in ihrem Geist zauberte ein Lächeln auf ihre verkrusteten Lippen, und es wärmte noch immer ihr Gemüt, als sich Clarissa im Morgengrauen auf ihr Lager zurückzog und die Augen schloss.
***
Nicoletta machte sich wieder auf den Weg zum Arsenal. Die Dämmerung zog bereits herauf. Irgendwo hinter den Wolken am Horizont würde die Sonne bald untergehen. Der Wind hatte aufgefrischt. Ein Blick nach Osten, wo sich Wolkentürme zusammenschoben, verriet, dass er nur ein Vorbote war. Es stand ihnen eine stürmische Nacht bevor.
Nicoletta schlang ihren Umhang enger um sich, um sich vor der Kälte und dem Wind zu schützen, dennoch fror sie und beschleunigte ihre Schritte. Es widerstrebte ihr zwar noch immer, ihren Vater zu sehen, doch wie lange konnte und wollte sie ihm aus dem Weg gehen? Sie fürchtete die Intrigen ihrer Brüder und ihrer Cousins, wenn sie zu lange wegblieb. Konnten sie den Vater so beeinflussen, dass er sie von sich wies und wie die anderen Frauen von allem ausschloss?
Ihre Gedanken verweilten nicht bei den Problemen mit ihrer Familie. Sie schweiften immer wieder zu Tammo, dem jungen Vampir, der ihr Herz so aufgeregt flattern ließ. Sie hatte sich vorgenommen, sich nie zu verlieben und vor allem niemals einem Mann zu folgen, ihn zu heiraten und sich von ihm einsperren zu lassen.
Aber Tammo war kein normaler Mann. Er war ein Vampir, der völlig anders lebte als die Oscuri. Einerseits wollte sie zu gern wissen, wie, doch anderseits fürchtete sie sich. Clarissas Worte klangen noch in ihren Ohren.
War es möglich, als Mensch und Vampir in Liebe zusammen zu sein, oder musste sie dann auch zum Vampir werden? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Was würde das bedeuten, sich aussaugen zu lassen, bis das Herz aufhörte zu schlagen, und sich dann irgendwie in so ein Wesen der Nacht zu verwandeln, um die Sonne nie wieder zu sehen?
Nicoletta machte eine wegwerfende Handbewegung. Ein Oscuro sah die Sonne auch nicht sehr häufig. Die Nacht war das Element der flüchtigen Schemen.
Waren sie den Vampiren nicht näher als alle anderen Menschen? Konnten nicht auch sie auf den Schwingen ihrer Umhänge wie Fledermäuse über Gassen und Kanäle hinweggleiten? Beherrschten sie nicht einfache magische Rituale und besaßen ein Zauberpulver, das ihnen sogar Macht über Vampire gab?
Vielleicht hatten sie ja doch eine Chance.
Vielleicht würde sie Tammo schon bald wiedersehen und sich dann anders entscheiden.
Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie den Unterschlupf der Oscuri betrat und die Treppe zu den Gemächern hinaufstieg.
Sie traf Tommaso auf seinem Diwan an. Natürlich, er war immer hier. Sie begrüßte ihn und er nickte mit einem Lächeln. Bei ihm saß ihr Onkel Leone, der aufsprang, als er sie sah, und ihr entgegeneilte.
»Da
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