Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
zuzugehen, blieb sie stehen. Nicoletta stöhnte innerlich. Sie sah, wie sich der Schemen einmal um seine Achse drehte, so als suche er etwas.
Hatte er sie entdeckt? Sollte sie sich zeigen oder lieber abwarten?
Da hob er raunend seine Stimme. »Alessandro, bist du da?«
War das Flavio? Alessandros Vater? Er hatte leise gesprochen, doch Nicoletta war sich sicher, seine Stimme erkannt zu haben.
Wie gut, dass sie sich nicht gezeigt hatte. Von den drei Brüdern ihres Vaters konnte sie Flavio am wenigsten leiden. Er war nur drei Jahre jünger als Calvino, doch im Gegensatz zu seinen jüngeren Brüdern hatte Nicoletta schon immer das Gefühl, er würde ihrem Vater seine Position neiden. Wenn einer seine Stimme gegen den Padre erhob und seine Entscheidungen infrage stellte oder kritisierte, dann war es Flavio. Sein ältester Sohn Alessandro war keine Spur besser. Noch mehr als die Führung des Clans interessierte er sich allerdings für die Schätze und für seinen Anteil, über den er mit Argusaugen wachte.
Nicoletta zog verächtlich die Lippe hoch. Natürlich mochte auch sie das schimmernde Geschmeide, das sie von ihren Beutezügen mitbrachten – welcher Oscuro konnte sich dem Glanz von Gold und Edelsteinen entziehen? –, und dennoch war ihr das nicht das Wichtigste. Die gemeinsame Planung, der Nervenkitzel, die Anspannung, wenn sie dann endlich zuschlugen, und die Flucht über die nächtlichen Dächer zurück zu ihrem Versteck, um mit allen zusammen den Erfolg ihres Coups zu feiern, das war es, was das Leben als Larvalesti ausmachte.
Und von dem die anderen sie jetzt ausschlossen.
Sie schluckte und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen.
Da lenkte sie ein zweiter sich nähernder Schemen ab. Er bewegte sich flink und lautlos, dennoch war sich Nicoletta erst sicher, wer er war, als sie seine Stimme hörte.
»Bist du da?«
Flavio trat einen Schritt vor, dass Alessandro ihn sehen konnte, und winkte ihn zu sich.
Was zum Teufel taten die beiden hier draußen? Sollten sie nicht zu Tommaso gehen, um sich mit den anderen Oscuri für eine letzte Besprechung zusammenzusetzen? Was lungerten die beiden hier draußen in Sturm und Regen herum?
»Hast du den Commissario getroffen?«, fragte Flavio.
Nicoletta erstarrte und schlug sich die Hand vor den Mund. Hatte sie da eben richtig gehört? Hatte Flavio Commissario gesagt?
»Ja«, hörte sie Alessandro sagen. »Er war erst ein wenig misstrauisch, doch dann sehr interessiert, wie du dir denken kannst. Er wird alle seine Männer schicken und sonnt sich bereits in seinem Ruhm, die Larvalesti dingfest gemacht zu haben.«
»Mehr als einen werden wir ihm nicht liefern«, brummte Flavio.
In Nicolettas Ohren summte es. Konnte das wahr sein? Verrieten Flavio und Alessandro ihre eigene Familie an die Polizei? Oder gab es eine andere Möglichkeit, ihre Worte zu verstehen? War das vielleicht ein Plan zum Vorteil des Clans, den sie nur noch nicht verstand?
Alessandro sprach weiter. »Hast du seinen Umhang schon präpariert?«, fragte er.
Sie ahnte, dass Flavio nickte. »Ja, es wird nicht auffallen. Vielleicht hält er noch ein paar Sprünge, doch dann wird er einreißen und ihn nicht mehr tragen. Vielleicht segelt er zu Boden, vielleicht stürzt er jäh ab, so genau kann ich es nicht sagen.«
»Ist uns auch egal«, fügte Alessandro mit gehässigem Ton hinzu. »Was zählt, ist, dass unser Padre Calvino uns heute Nacht bei seiner Flucht vor der Polizei leider verlassen muss. Auf die eine oder andere Weise.«
»Der König ist tot, es lebe der König«, sagte Flavio mit einem leichten Zittern in der Stimme.
»Du wirst ein guter Clanführer sein. Stärker und entschlossener als Calvino. Du wirst nicht für ein Weib die Regeln der Oscuri brechen, die seit Jahrhunderten Bestand haben«, bestätigte sein Sohn Alessandro.
Das Dröhnen in Nicolettas Ohren wurde zu einem Schwindel, der ihren ganzen Körper erfasste. Sie musste sich gegen das morsche Holz lehnen, so weich fühlten sich ihre Knie plötzlich an. Sie horchte erst wieder auf, als sie ihren Namen vernahm.
»Und Nicoletta? Was machen wir mit ihr?«, erkundigte sich Alessandro. »Wenn es nach mir ginge, dann sollte sie wie Calvino enden – im Gefängnis oder unter der Erde.«
Flavio wehrte ab. »Sie kann Gabriele heiraten. Solange er sie unter Kontrolle hat und sie ihre Pflichten erfüllt, stellt sie kein Problem für uns dar.«
»Sie ist nicht einmal eine echte Oscuri«, zischte Alessandro, doch Flavio winkte
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