Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Umhänge heraus, wie sie Hindrik, Luciano und sie selbst bereits trugen. Alisa fiel auf, dass sich der Umhang, den Anna Christina trug, von den anderen unterschied. Sie trat näher und befühlte den Stoff, dann entdeckte sie ein kleines, versengtes Loch auf Höhe der Brust.
»Ist das etwa … « Sie warf Nicoletta einen Blick zu und verstummte. Sie wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte. Der Getötete musste einer ihrer Cousins gewesen sein. Alisa hatte keine Ahnung, wie nahe er ihr gestanden hatte und wie groß ihre Trauer war.
Solche Skrupel kannte die Dracas nicht. »Ja, es ist der sagenhafte Umhang des Larvalesto , den du erschossen hast.«
Nicoletta zuckte ein wenig zusammen, sagte aber nichts.
»Und ich habe mir auch den Degen und seinen Beutel mit dem magischen Pulver genommen. Wer weiß, wozu wir es gebrauchen können. Wenn sie unsere Magie mit ihren Mitteln schwächen, dann wollen wir mal sehen, ob wir sie nicht mit ihren eigenen Waffen schlagen können. Ich habe den Mantel bereits ausprobiert. Wenn man sich nicht wandeln kann, ist er eine sagenhafte Alternative, um über einen Abgrund zu schweben. Richtig fliegen kann man damit allerdings nicht.«
Das konnte Nicoletta nur bestätigen. Sie sah Anna Christina mit gerunzelter Stirn an, dann löste sie ihren eigenen Umhang und hielt ihn Tammo hin.
»Hier, nimm ihn. Vielleicht hilft er dir, den Anschlag auf meinen Vater zu verhindern.«
Tammo nickte und gab ihr seinen Mantel zum Tausch. Sie setzten alle ihre Masken auf, die, im Gegensatz zu normalen Masken, verklebte Nasenlöcher hatten.
»Wittert nicht nach Spuren, sobald wir den Palast betreten haben«, erinnerte Anna Christina. »Je weniger wir von dem Pulver auf die Haut und in die Lungen bekommen, desto weniger werden wir in unserer Beweglichkeit eingeschränkt.«
»Wir sollten dennoch darauf verzichten, Wandlungsversuche zu unternehmen«, schlug Alisa vor. Die anderen stimmten ihr zu. Dieses Mal nahmen Hindrik und Leo die beiden Degen, während sich Alisa, Tammo und Luciano mit Pistolen bewaffneten.
»Ich kann es bestimmt noch«, murmelte Luciano. »Schließlich habe ich mit Leo eine ganze Nacht geübt.«
Das letzte Mal, als er eine Pistole in der Hand gehabt hatte, war er zu einem Duell mit Lord Byron verabredet gewesen. Mit einem Schaudern dachte Alisa an die Nacht zurück, in der Clarissa das erste Mal fast vernichtet worden wäre. Und nun war sie wieder nur knapp entkommen und würde vielleicht für immer schwer gezeichnet bleiben. Nein, das Wiener Mädchen war nicht vom Glück gesegnet.
Leo spähte nach rechts und nach links. »Also dann los!«
Sie überquerten die Piazetta, die wie der Markusplatz nun bereits wadentief unter Wasser stand. Dieser Teil Venedigs lag am tiefsten und wurde bei Acqua alta als Erstes überschwemmt. So hoch, wie das Wasser bereits war, stand nun vermutlich bereits die halbe Stadt unter Wasser. Es schwappte über die Kais, drang in die Gassen und durch die Wassertore ein. Nun verstand Alisa, warum die unteren Stockwerke fast nirgends bewohnt und meist nur als Lager benutzt wurden.
Leo erreichte die Ecksäule als Erster und kletterte flink an den beiden Figuren hinauf. Er ergriff das Geländer der Loggia, und schon war er oben.
»Ganz leicht!«, sagte er.
Als Nächste versuchte es Nicoletta. Tammo folgte dicht hinter ihr, doch falls er befürchtet hatte, sie könnte abrutschen, zeigte sich seine Sorge als unbegründet. Nicoletta kletterte fast so sicher wie Leo und stand bald schon neben ihm. Die anderen folgten. Leo sah sich um und richtete seinen Blick dann auf Nicoletta.
»Kommt mit«, sagte sie mit fester Stimme und ging den Vampiren voran.
Ü BERFALL AUF DEN D OGENPALAST
Die Erben sahen in den Innenhof des Dogenpalasts hinab. Links von ihnen war der private Zugang des Dogen zur Basilika. Die Kuppeln des Markusdoms hoben sich schwach gegen die vom Wind rasch vorangetriebenen Sturmwolken ab. Gegenüber sahen sie einen langen vierstöckigen Flügel, unten mit zwei Reihen Arkaden, oben mit zwei Reihen Bogenfenstern, der seine Fortsetzung im Moloflügel zu ihrer Rechten fand.
»Dort ist der große Saal des Maggior Consiglio , des Rats der Stadt«, erklärte Nicoletta. »In den Räumen drumherum arbeiteten die höchsten Beamten, und es gab ein geheimes Archiv, zu dem nur wenige Zugang hatten. Der Doge selbst wohnte im Ostflügel mit seiner einfachen Fassade zum Rio del Paglia hin.«
Sie öffnete eine Tür und führte die Vampire in das Innere des
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