Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
dass er weiß, von wem ihm Gefahr droht.«
Alisa und Leo tauschten Blicke. »Das wird nicht einfach. Hast du eine Idee?«, fragte der Dracas. Die Vamalia kaute auf ihrer Lippe, dann erwiderte sie seinen Blick. »Ja«, sagte sie langsam. »So könnte es gehen.«
***
Clarissa stand im Bug der Gondel und starrte zum Dogenpalast hinüber. Obgleich es aufgehört hatte zu regnen, fuhr der Wind noch immer in eisigen Böen über den Bacino, doch sie spürte die Kälte um sich herum nicht. Sie plagte nur die innere Kälte, die sich so sehr nach Furcht anfühlte. Seit die Freunde sich von ihr verabschiedet hatten, ließ Clarissa den Palast mit dem überfluteten Platz und der Mole nicht aus den Augen. Sie hatte die Erben mit Nicoletta zur Bibliothek huschen sehen, doch seitdem rührte sich nichts mehr, und die Zeit verstrich nur träge.
Was tat sich dort im Palast des Dogen? Welche Dramen spielten sich ab? Sie lauschte, konnte aber nur den Wind hören.
Es musste bereits auf Mitternacht zugehen, als sie den Kopf hob und die Augen zusammenkniff. Was war das? Auf dem Dach des Palasts bewegte sich etwas. Sie konnte einen warmen Schimmer ausmachen, der sich in mehrere Gestalten schied. Sie trugen weite, dunkle Umhänge. Die Larvalesti kamen! Clarissa erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit dem maskierten Schemen im Palazzo Dario. Er war so charmant gewesen, seine Stimme so faszinierend. Sein Blick, der nach dem Grund ihrer Seele zu suchen schien.
Hatte sie die Drohung deshalb nicht ernster genommen und nicht alles darangesetzt, Luciano zu überzeugen, sofort abzureisen? Dann wäre all dies nicht passiert. Dann wäre sie jetzt noch immer seine schöne Clarissa, die er mit diesem Blick voller Bewunderung ansah, so als könne er sein Glück noch immer nicht fassen.
Doch wohin hätten sie fliehen können? Zurück zu den Nosferas nach Rom?
Nein. Was sollte sich dort ändern?
Nach Hamburg?
Das wäre vielleicht die bessere Wahl gewesen.
Während Clarissa grübelte, sah sie die Schemen hinter den kunstvoll durchbrochenen Zinnen über das flach geneigte Dach des Palasts huschen. Zehn Silhouetten zählte sie, die, eine nach der anderen, plötzlich verschwanden. Ein Dachfenster oder eine Luke, vermutete Clarissa, durch die sie ins Innere gelangten.
Nun würde sich die nächtliche Stille wieder herabsenken, und ihr würden nur ihre Grübeleien und ihre Furcht bleiben. Furcht vor dem, was im Dogenpalast vor sich ging, Furcht um Luciano, um Nicoletta, und, ja, auch um die anderen Vampire.
Aber was war das? Clarissa schüttelte verwirrt den Kopf. Ein Boot, nein drei, die aus einem Kanal ins Bacino di San Marco abbogen und dann die Mole entlangkamen. Entlangschossen, musste man fast sagen. Die Boote wurden nicht wie die meisten Gondeln von einem Gondoliere am Heck gerudert. Jeweils sechs Männer legten sich in die Riemen. Dann gewahrte sie noch einmal zwei Boote von der anderen Seite, die den Canal Grande verließen und ebenfalls auf die Mole zuhielten. Sie ahnte bereits, dass das Ziel der Dogenpalast sein würde, noch ehe sie erkannte, dass die Männer Uniformen trugen und bewaffnet waren.
Nun konnte sie auch von der Piazza her einen ganzen Trupp Männer herankommen sehen, die mühsam durch das fast knietiefe Wasser wateten. Es würde schwierig werden, die fliehenden Schemen durch die Gassen zu verfolgen, solange die Flut sich nicht wieder zurückzog. Die Oscuri selbst würden sich keine nassen Füße holen. Ihr Element waren die Dächer in schwindelnder Höhe. Wenn sie ihre Beute nicht bereits im Palazzo einkreisen und stellen konnten, würde der einzige Weg für die Polizisten sein, sich ebenfalls auf die Dächer zu wagen. Doch die Oscuri waren dort oben Zuhause. Hier bewegten sie sich mit all ihrem Geschick. Und sie besaßen Mäntel, die ihnen Flügel verliehen. Die Polizisten hatten keine Chance!
Nein, die einzige Möglichkeit, die ihnen blieb, war, die Schemen im Palast auf frischer Tat zu ertappen und ihrem Treiben notfalls mit Waffengewalt ein Ende zu setzen.
Clarissa schluckte. Und die Vampire? Was würde mit ihnen geschehen, wenn sie dort drinnen unversehens in einen Krieg zwischen den Larvalesti und der Polizei gerieten?
Sollte sie versuchen, das Boot zu verlassen und ihre Freunde zu warnen? Oder wussten sie bereits, dass sie es nicht nur mit den Schemen zu tun haben würden?
Clarissa sah zögernd auf das noch immer steigende Wasser und ließ den Gedanken resigniert fallen. Sie würde es nicht schaffen! Schon hatten
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