Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Palasts, während sie weitererzählte, als hätten sie alle Zeit der Welt.
»Der Westflügel, in dem wir jetzt stehen, war seit jeher der Justizpalast. Es gab nicht nur Räume für die Justizbeamten. Hier war auch die Inquisition untergebracht mit ihrer Folterkammer.«
Sie öffnete eine Tür und betrat einen hohen Raum, von dem ein dickes Seil von der Decke hing. Alisa konnte sich lebhaft vorstellen, wozu diese Vorrichtung gedient hatte. Man hatte den Gefangenen die Arme auf den Rücken gebunden und sie hochgezogen, bis sie die Schmerzen in Armen und Schultern nicht mehr aushalten konnten und gestanden. Ob die Geständnisse allerdings der Wahrheit entsprachen, stand auf einem anderen Blatt.
Nicoletta deutete auf die hölzernen Balkone mit ihren vergitterten Fenstern. »Und dort saßen die Kandidaten, die als Nächstes von der Inquisition befragt werden sollten. Sie waren gezwungen, die Tortur ihrer Mitangeklagten mit anzusehen und ihre Schmerzensschreie zu hören.«
»Das hat ihre Zunge sicher gelockert«, meinte Leo trocken.
Sie gingen weiter. Alisa warf einen Blick in eine kleine holzverkleidete Kammer mit einem Sekretär. Das waren also die Büros der höchsten Beamten der Republik Venedig gewesen. Wie schlicht und ohne jede Verzierung hier alles war.
Sie stiegen eine enge Treppe hinauf. Immer höher. Durch eine Öffnung konnten sie das Gebälk erkennen, das in einer erstaunlichen Konstruktion die weitgespannte Decke über dem großen Saal trug, wie Nicoletta ihnen sagte. Sie schien sich schon oft im Palast herumgetrieben zu haben, denn sie zögerte kein einziges Mal. Dabei erzählte sie weiter.
»Nachdem die Inquisition die Angeklagten verhört hatte, verschwanden sie in den Gefängniszellen. Besonders gefürchtet waren die stets feuchten Brunnen ganz unten in den Fundamenten, in die bei hoher Flut wie heute das Wasser eindrang. Aber auch die Bleikammern hier oben direkt unter dem Dach waren alles andere als angenehm. Im Winter von Eiseskälte durchdrungen, im Sommer mörderisch heiß.« Sie zeigte auf eine mit einem massiven Eisengitter verschlossene Zelle.
»Und dennoch ist es Casanova gelungen, aus einer dieser Bleikammern auszubrechen«, mischte sich Leo ein. »Ich habe seine Memoiren gelesen.«
Nicoletta wandte sich um. »Giacomo Girolamo Casanova, in der Tat eine schillernde Figur. Der große Frauenheld und Herzensbrecher. Man kann kaum sagen, was sich wirklich zugetragen hat und was er selbst oder andere erfunden haben. Wahr jedoch ist, dass er hier oben in dieser Kammer eingesperrt wurde. Die Anklage lautete › Schmähung der Religion ‹ , doch wer weiß, vielleicht hat er auch die Frau eines Richters verführt? Jedenfalls wollte er sich mit seinem Schicksal nicht abfinden und sann auf Flucht. Er grub sich hier durch die Decke, bis nur noch das Deckengemälde im Stockwerk darunter zwischen ihm und der Freiheit stand.« Sie machte eine Pause. »Wisst ihr, welcher Raum darunter ist?« Die anderen schüttelten die Köpfe.
»Der Gerichtssaal der Inquisition!«
»Ups«, meinte Tammo. »Haben sie ihn erwischt?«
»Nein, doch während er darauf wartete, dass es Nacht wurde und der Saal sich unten leerte, verlegte man ihn in eine andere Zelle.«
»So ein Pech!«, rief Tammo.
»Ja, das war es, und Casanova musste von vorn anfangen.«
»Und der zweite Versuch klappte?«, wollte Alisa wissen.
Nicoletta nickte. »Ja, er entkam mit Hilfe eines Priesters und reiste dann die folgenden Jahre durch Europa, erlebte Abenteuer und schrieb Bücher. Fast zwanzig Jahre dauerte es, ehe er nach Venedig zurückkehrte. Danach arbeitete er dann als Spitzel für die Inquisition!«
Anna Christina unterbrach sie. »So faszinierend die Geschichte Casanovas ist, ich schlage vor, wie wenden uns unserer Aufgabe zu. Es wird jeden Moment Mitternacht schlagen!«
Erschrocken starrte Nicoletta sie an. »Ja, kommt schnell. Wir müssen hinunter in die Säle, wo die heiligen Gerätschaften ausgestellt werden. Dort werden wir auf die Oscuri treffen.«
Leo griff nach ihrem Arm. »Einen Moment. Hast du denn einen Plan? Was sollen wir tun, wenn wir auf die Männer deiner Familie treffen? Deinen Vater schützen, in Ordnung, aber wie? Sollen wir die anderen einfach töten?«
Nicoletta starrte ihn erschrocken an. »Nein! Um Himmels willen nein. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich mir den Tod der beiden Verräter wünsche. Ich hasse Flavio und Alessandro, doch auch sie sind Oscuri. Ich will nur, dass meinem Vater nichts passiert und
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