Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Clarissa legte ihr den Arm um die Schulter und neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite, dass sich ihr die bläulich pulsierende Ader, die den weißen Hals durchzog, darbot. Das Mädchen ließ alles widerstandslos mit sich geschehen. Ihr Geist war von der magischen Kraft, die jedem Vampir zu eigen ist, gefangen.
Nein, sie konnte der Versuchung nicht widerstehen. Clarissa beugte sich vor, bis ihre Lippen die warme Haut des Mädchens berührten.
Nur wenige Minuten später näherten sich Lucianos Schritte der geschlossenen Tür.
»Clarissa? Seid ihr fertig? Kann ich reinkommen?«
Er blieb stehen und wartete auf eine Antwort, konnte aber nichts hören. Dafür stieg ihm ein Duft in die Nase, der ihn innerlich aufstöhnen ließ. Es sah sich kurz um. Die Schneiderin war noch dabei, die Lirascheine in ihrer Börse zu verstauen. Rasch riss er die Tür auf, schlüpfte in das Schlafgemach und schob die Tür wieder hinter sich zu.
Das Bild, das er sah, bestätigte seine schlimmste Vermutung. Er hatte richtig gewittert. Clarissa stand da, den Arm um das Mädchen gelegt, dessen Blick apathisch in die Ferne gerichtet war. Als sie die Tür klappern hörte, sah Clarissa auf. Ihr Mund war von frischem Blut verschmiert. Die Spitzen ihrer Zähne lugten zwischen ihren Lippen hervor.
Mit drei schnellen Schritten war Luciano bei ihr und nahm ihr das Mädchen aus den Armen. Es mochte vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein, wirkte aber recht robust, sodass es den Blutverlust hoffentlich schadlos verkraften sollte.
»Luciano, ich weiß nicht, wie das passieren konnte«, flüsterte Clarissa.
»Es ist ganz natürlich«, wehrte er ab. »Du musst dich nicht entschuldigen. Ich hätte dafür sorgen müssen, dass du genügend Blut bekommst.«
»Es tut mir leid!«
Luciano zog sein Taschentuch hervor und wischte ihr damit das Blut von den Lippen.
»Es ist nichts Schlimmes passiert. Sie wird sich davon erholen. Jetzt müssen wir das nur noch mit der Schneiderin ohne Geschrei hinbekommen.«
Luciano beugte sich über das Mädchen und tupfte auch ihren Hals sauber. Die Wunde hörte bereits auf zu bluten. Gut so.
Er schluckte trocken. Auch ihn reizte der Geruch nach dem jungen, frischen Blut.
Nein, das wäre keine gute Idee! Er würde später noch Gelegenheit bekommen, sich satt zu trinken. Luciano verdrängte seine Lust und hob das Mädchen auf, um es auf das Ruhebett unter dem Fenster zu legen. Dann schritt er zur Tür und rief die Schneiderin herein.
»Signora, bitte kommen Sie! Ihrem Mädchen ist es schlecht geworden. Clarissa, siehst du nach, wo das Riechsalz ist?«
Clarissa zog einige Schubladen auf, doch die Schneiderin hatte eines in ihrer Tasche und hielt es dem Mädchen unter vielen Entschuldigungen unter die Nase.
Federica nieste, dann kehrte ihr Blick zurück. Sie richtete sich auf und sah nacheinander Clarissa, Luciano und die Schneiderin an. Clarissa hielt die Luft an und griff nach Lucianos Hand.
»Es tut mir leid, Signora, so etwas ist mir noch nie passiert. Ich werde mir doch nicht die Influenza geholt haben?«
»Das will ich hoffen«, sagte ihre Chefin streng und entschuldigte sich dann noch einmal bei Clarissa und Luciano, die mit einer großzügigen Geste abwehrten.
Rasch packte die Schneiderin ihre Kiste mit den Stoffproben wieder zusammen. Dankend nahm sie Lucianos Angebot an, sie zum Boot hinunterzutragen, während sie selbst die noch schwankende Federica die Treppe hinunterführte.
***
»Und was machen wir jetzt?« Alisa trat aus dem Bahnhof und sah sich um.
»Jetzt suchen wir Luciano und Clarissa«, antwortete Leo liebenswürdig, während er auf die Anlegestelle zustrebte, an der unzählige Gondeln auf Passagiere warteten. Alisa sah einer mit Koffer und Hutschachteln beladenen Gondel nach, die zwei Gondolieri auf Venedigs Prachtkanal zusteuerten.
Alisa rollte mit den Augen. »So weit bin ich auch schon, aber wie stellen wir das an? Venedig ist keine kleine Stadt, wenn auch sicher nicht so groß wie Rom oder Paris, dafür mit sehr viel Wasser, auf dem selbst Vampire keine Spuren hinterlassen.«
Leo nickte. »Daher sollten wir uns lieber an die Gassen halten, nicht wahr?«
»Ja, natürlich! Das weiß ich auch. Du könntest einen Heiligen zur Weißglut bringen mit deiner aufreizenden Art.«
Leo blinzelte sie mit unschuldigem Blick an. »Ach wirklich? Dabei dachte ich, ich würde mir alle Mühe geben, dir bei der Lösung deines Problems behilflich zu sein.«
Alisa starrte ihn noch einige Augenblicke
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