Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Schritt stürmte er ins Zimmer.
»Da war niemand!«, rief er und nieste.
Was sollte diese blöde Nieserei? Er konnte sich nicht erinnern, jemals geniest zu haben, ehe er nach Venedig kam.
»Ich konnte nicht eine Spur wittern!« Ja, nicht einmal ihre eigenen. War das nicht seltsam? Er nieste wieder.
Egal. Jedenfalls ging der Spaß nun eindeutig zu weit! Luciano gähnte. Im Palazzo war es bereits verdächtig hell geworden. Auch Clarissas Blick wurde glasig. Sie fasste in die Tasche ihres Kleides und zog einen Zettel heraus.
»Das soll ich dir geben und dir raten, die Worte ernst zu nehmen«, sagte sie. Dann wankte sie zu ihrem Sarg, ließ sich hineingleiten und klappte den Deckel zu.
Luciano schüttelte den Kopf und kniff ein paar Mal die Augen zusammen, um den fast übermächtigen Drang zu überwinden, augenblicklich in seine Todesstarre zu fallen.
Was war das für ein Brief? Er glaubte, das Briefpapier unten im Salon auf einem zierlichen Sekretär gesehen zu haben. Die Schrift erkannte er als Clarissas. Doch was sollten diese seltsamen Worte bedeuten?
Er las die wenigen Sätze ein halbes Dutzend Mal durch, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Natürlich schien die Botschaft auf den ersten Blick klar. Es war eine höfliche Aufforderung, den Palazzo bereits in der nächsten Nacht zu verlassen und nicht wieder zurückzukehren. Gefolgt von einer kaum verhohlenen Drohung, dass es für sie beide sonst sehr unangenehm werden würde.
So weit, so klar.
Aber warum hatte Clarissa dies geschrieben? Der seltsame Fremde habe ihr die Worte in die Feder diktiert? So ein Unsinn! Warum tischte sie ihm diese Lügengeschichte von einem Eindringling auf? Was bezweckte sie damit? Wollte sie, dass er sie von hier wegbrachte?
Gut, das konnte er noch halbwegs verstehen. Bisher hatte sie kaum etwas von Venedigs Schönheit gesehen, doch das war nur eine Frage der Zeit. Sie musste sich eben anstrengen und lernen, und schon bald würde sie sich frei in der Stadt bewegen können. Sie musste es einfach lernen! War ihr das nicht klar?
Wohin sonst sollten sie gehen? Zurück nach Rom wollte Clarissa ganz sicher nicht. Was blieb ihnen dann?
Sollte er es doch wagen, sie nach Hamburg zu bringen? Für einen Moment stiegen die Gesichter seiner Freunde vor ihm auf. Alisa. Leo. Wie gern wüsste er sie jetzt an seiner Seite, und dennoch kam es gar nicht infrage, sie um Hilfe anzuflehen. Er würde es schaffen, auch ohne den Dracas und die Vamalia!
Sie würden sich irgendwann wiedersehen, sobald er hier alles im Griff hatte. Dann würde er sie nach Venedig einladen und ihnen die herrliche Stadt zeigen, in der sie jetzt wohnten.
Seine Gedanken gingen in Träume über. Luciano schloss die Augen. Er tastete nach seinem Sarg und ließ sich nach hinten fallen. Das Dröhnen des zufallenden Deckels war das Letzte, was er hörte.
***
»Alisa? Bist du dort oben?«
Leos Gesicht schob sich über den Rand des Wagendachs. Sein Blick heftete sich auf Alisa, die im Schneidersitz auf dem Gepäckwagen saß, die Arme in die Luft gereckt. Ihr langes Haar hatte sich gelöst und flatterte im Fahrtwind. Ein seliges Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Was um alles in der Welt tust du hier?«
Leo schwang sich mit einem eleganten Satz auf das Zugdach und kam auf sie zu. Die Hände in die Hüften gestützt, sah er mit einem Kopfschütteln auf sie herab. Alisa lächelte zu ihm hoch.
»Ich bin glücklich und schwelge in Erinnerungen. Genauso war es, als wir zum ersten Mal mit dem Zug nach Süden fuhren. Ich war so aufgeregt, Rom und euch andere Erben kennenzulernen.«
»Du bist auf dem Dach des Zuges gereist?«, wunderte sich Leo.
Alisa lächelte schelmisch. »Ich wusste schon damals viel über das Menschenzeug, wie so viele es verächtlich nannten, und wie man es sinnvoll einsetzen kann. Hindrik hatte uns zwar in unsere Reisesärge eingeschlossen, aber ich konnte die Nägel entfernen und bin aufs Dach geklettert. Ich wollte schließlich die Landschaft betrachten, durch die wir reisten. Es war so aufregend und schön, und das ist es für mich auch heute noch.«
Ihre letzten Worte gingen in einem Pfiff unter. Ein Wölkchen aus weißem Dampf huschte an ihnen vorbei.
»Und jetzt solltest du ganz schnell zu mir herunterkommen!«, fügte Alisa hastig hinzu. Sie griff nach seinen Armen und zog mit einem solchen Ruck, dass Leo das Gleichgewicht verlor und auf sie fiel. Ihre Arme schlangen sich um seinen Rücken. Schon raste der Zug mit einem schrillen Pfeifen in
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