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Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)

Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)

Titel: Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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Venedig nennen uns Larvalesti.«
    »Flüchtige Schemen oder schnelle Geister«, übersetzte Clarissa. Ja, das passte zu ihnen.
    »Wie würden die Menschen Sie wohl nennen?«
    Clarissa antwortete nicht, obgleich ihr der Verdacht kam, er wisse die Antwort längst. Er sah ihr in die Augen, als wolle er bis in ihre Seele blicken. Hatte sie denn noch eine? Clarissa wusste es nicht.
    Plötzlich wandte sich Leone um und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Tür. Clarissa folgte seinem Blick und lauschte. Es war ihr, als könne sie Schritte auf der Treppe ahnen. Dann trat eine zweite Gestalt ein, ebenso in einen schwarzen Domino gehüllt, das Gesicht hinter einer Maske verborgen. Sie war deutlich kleiner als der Mann vor ihr, und trotz des weiten Umhangs sah Clarissa, dass sie zierlich gebaut sein musste. Ein Kind?
    Es war die Stimme eines jungen Mädchens, das zu sprechen begann, nachdem es Clarissa einen forschenden Blick zugeworfen hatte.
    »Sie sind da und warten oben auf dem Dach«, sagte sie. »Wir können aufbrechen.«
    Leone nickte. »Gut«, sagte er. »Dann soll es so sein.« Er wandte sich wieder an Clarissa und verbeugte sich in ihre Richtung.
    »Es tut mir aufrichtig leid, Verehrte.« Das Bedauern in seiner Stimme klang echt. »Es ist normalerweise nicht unsere Art, Gewalt gegen Damen anzuwenden. Wehren Sie sich nicht. Je weniger Widerstand Sie leisten, desto weniger Schmerz müssen wir Ihnen zufügen.«
    Clarissa wich unwillkürlich zurück. »Was haben Sie vor? Halt, stehen bleiben! Wagen Sie es nicht, mich anzurühren.«
    Sie wich bis zum Fenster zurück, doch er kam unerbittlich näher. Er schlug seinen Umhang auseinander. Seine Hand schob sich in einen Beutel, den er am Gürtel trug.
    ***
    »Clarissa? Wo bist du?«
    Keine Antwort. Luciano durchquerte den Hof und stieg dann die Treppe in den Ballsaal hinauf.
    »Clarissa?«
    Stille. Er seufzte. Es kam ihm vor, als habe er das schon einmal erlebt, dabei war er dieses Mal wirklich nur kurz weg gewesen. Kaum drei Stunden. War sie etwa schon wieder beleidigt?
    »Ich habe die Karten!«, rief er, während er die Treppe zum Wohngeschoss hinaufeilte. »Wir werden nächste Woche zusammen in die Oper gehen. Es wird dir gefallen. La Fenice ist unbeschreiblich!«
    Er sah sich in jedem Raum um, ehe er sich der Treppe zum Dachgeschoss zuwandte.
    »Und stell dir nur vor, Richard Wagner ist in Venedig. Er hat eine Etage im Palazzo Vendramin Calergi gemietet, nur ein Stück den Canal Grande hinauf. Hörst du mich? Vielleicht treffen wir ihn in der Oper oder haben bei einer Gesellschaft die Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Seine Opern sind grandios, findest du nicht auch?«
    Er blieb neben ihren leeren Särgen stehen, nachdem er auch in jede Kammer des Dachgeschosses gesehen hatte. Nichts. Sie war nicht da. Luciano trat auf die Loggia hinaus und sah in den Garten hinunter.
    »Clarissa?«, fragte er zaghaft, aber nur die Stille der Nacht antwortete ihm.
    Das war nicht möglich! Er lief hinunter ins untere Geschoss und durchsuchte vom Wassertor bis hinauf zum Dach noch einmal Garten, Hof und Haus, doch er konnte sie nicht finden. Sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
    Luciano ließ sich auf die Treppe sinken. Sie hatte ihn verlassen. Aber warum? Und wohin konnte sie gegangen sein?
    Nein, das war nicht möglich. Sie konnte die Kanäle nicht queren. Oder etwa doch? Hatte sie ihn zum Narren gehalten und war ihr Schmerz nur gespielt gewesen? Er hatte sich von Anfang an gewundert, dass es ihr derart schwerfiel, selbst kleinste Fortschritte zu machen.

Oder hatte sie einfach nur einen günstigen Zeitpunkt abgewartet? Er trat ans Fenster und versuchte, den Stand des Wassers abzuschätzen. Der Gezeitenwechsel hatte sich vor kaum einer Stunde vollzogen. Also konnte sie noch nicht weit sein!
    Luciano sprang auf. Er war noch immer verwirrt, weil er ihre Motive nicht begreifen konnte. Hätte er vorgestern anders reagieren sollen, als sie ihm mit dieser absurden Geschichte kam? Was nur hatte er jetzt wieder falsch gemacht? Er hatte für sie seine Familie verlassen und Clarissa an einen Ort gebracht, an dem sie vor jeder Verfolgung sicher sein sollten, und das dankte sie ihm so? Nur weil es für eine Weile ein wenig unbequem für sie war? Zorn stieg in ihm auf. Wie konnte sie ihn ohne ein Wort des Abschieds einfach verlassen? Wie glaubte sie, ohne ihn überleben zu können?
    Sein Zorn wandelte sich in Sorge. Hoffentlich stieß ihr nichts zu. Sie war noch so unerfahren in der Welt der

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