Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
finster an, dann begann sie zu lachen und knuffte Leo in den Arm. »Es ist auch dein Problem, oder sind Luciano und Clarissa nicht auch deine Freunde?«
Leo hob die Augenbrauen. »Oh, ich sprach nicht von den beiden. Mögen sie nun in Schwierigkeiten stecken oder nicht. Ich denke, so schlimm wird es nicht sein. Ich dachte eher an deine Langeweile, die dich in eine Stimmung fallen lässt, gegen die eine gereizte Tigerin im Umgang ein Schmusekätzchen ist.«
Alisa starrte ihn an. Betroffenheit breitete sich in ihrer Miene aus.
»Bin ich wirklich so schlimm?«
»Noch schlimmer«, behauptete Leo mit einem Lächeln. »Aber vielleicht liebe ich dich gerade deswegen? Wer weiß, wir Dracas gelten als extravagant und unberechenbar, nicht wahr?«
Sie trat auf ihn zu und drückte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. »Danke.«
»Keine Ursache. Und nun wollen wir uns aufmachen, unser tragisches Liebespaar zu suchen, ehe die Nacht völlig ungenutzt verrinnt.«
»Und wo sollen wir anfangen?«, wiederholte Alisa ihre Frage.
»Bei den Hinweisen in seinem Brief.«
»Die außerordentlich spärlich sind, wenn du mich fragst.« Alisa zog das zerknitterte Blatt heraus und schnitt eine Grimasse.
Leo trat an ihre Seite und gemeinsam lasen sie noch einmal Lucianos wenige Zeilen.
»Zuerst, der Brief wurde auf dem Postamt von San Marco aufgegeben«, sagte Leo. »Zweitens schreibt er von einem Palazzo, den er für sich und Clarissa gefunden hat.«
»Palazzi gibt es in Venedig unzählige«, wandte Alisa ein.
»Ja, aber er schreibt in bester Lage, und das heißt vermutlich irgendwo am Canal Grande. Oder sagen wir zumindest in einer guten Gegend, womit die umliegenden Inseln wie die Guidecca und Murano, aber auch die Sestiere Castello, Cannaregie und Santa Croce ausscheiden.«
Alisa hob verwundert die Brauen. »Woher weißt du das alles?«
»Ich habe mich vor unserer Abreise informiert. Hast du dir denn keine Gedanken darüber gemacht, wie wir die beiden aufspüren?«
Alisa wand sich. »Nun ja, nicht so genau. Ich habe auch über Venedig gelesen, aber vielleicht über, sagen wir, anderes. Doch sag, welche Teile der Stadt bleiben dann noch übrig?«
Leo fasste in die Brusttasche seines Fracks und holte ein zusammengefaltetes Blatt heraus. Es enthielt eine Karte Venedigs, die er offensichtlich irgendwo abgezeichnet hatte.
»Das hier ist der Canal Grande«, sagte er und fuhr dem spiegelverkehrten S nach, das die Stadt in der Mitte teilte. »Hier, entlang seines Ufers, gibt es einige Dutzend Palazzi. Außerdem hat sich der venezianische Adel um die Campi der großen Kirchen in den Stadtvierteln von San Marco und San Polo niedergelassen.«
Er umfuhr die beiden Stadtviertel mit dem Zeigefinger. »Auf dieses Gebiet müssen wir unsere Suche konzentrieren.«
Alisa stöhnte. »Ein paar Dutzend Palazzi? Ich fürchte eher, es werden ein paar Hundert sein!«
Leo ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Na und? Dann finden wir sie eben nicht heute Nacht, sondern morgen oder übermorgen und sehen uns bei der Gelegenheit noch ein wenig in Venedig um. Ist das nicht besser als Nächte voller Langeweile in Hamburg?«
»Du hast wie immer recht, mein allwissender Dracas.« Ein wenig Spott schwang in Alisas Stimme, aber auch Bewunderung.
»Gut, dann lass uns beginnen.«
Leo machte eine einladende Handbewegung in Richtung eines der Boote. Der Gondoliere, der offensichtlich nur darauf gewartet hatte, begann zu gestikulieren und sie wortreich einzuladen, mit seiner Gondel zu fahren.
»Ich bringe Sie überall hin, wohin Sie wollen. Ich zeige Ihnen die Wunder Venedigs und erzähle Ihnen alles, was Sie über la Serenissima wissen müssen. Die wundervollste aller Städte!«
Alisa winkte ab, doch so schnell ließ der Gondoliere seine schon sicher geglaubte Beute nicht wieder los.
»Suchen Sie ein Hotel? Amore, ich sehe es Ihnen an. Ja, Venedig ist eine Stadt der Liebe. Ich weiß verschwiegene Orte, die Ihnen gefallen werden.«
Alisa schnaubte abfällig durch die Nase. »Wir sind hier nicht zum Vergnügen, auf Hochzeitsreise oder so etwas.«
»Dennoch wäre es ganz sinnvoll, wenn wir mit unserer Suche irgendwo an einem zentralen Ort anfangen«, meinte Leo. »Am Rialtomarkt oder auf dem Markusplatz.«
»Einverstanden, aber dorthin können wir auch eines dieser Vaporettos nehmen. Über die habe ich gelesen.«
Alisa deutete auf ein etwas plumpes Schiff, das unter Ausstoß einer Dampfwolke gerade am Kai festmachte. Eine Traube von Menschen
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