Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
einen Tunnel. Dichter Qualm hüllte sie ein und hätte ihnen die Luft zum Atmen genommen, wenn sie diese gebraucht hätten.
Übermütig küsste sie Leo und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie in Leos verrußtes Gesicht und wusste, dass sie nicht besser aussah. Ein Lachen ließ ihren Körper erbeben. Sie fühlte sich so glücklich und frei wie seit Monaten nicht mehr.
Leo richtete sich auf und betrachtete sie mit einem zärtlichen Ausdruck. »Weißt du, dass man dich jetzt mit Fug und Recht zu den finsteren Gestalten zählen kann?«, sagte er ebenfalls belustigt.
»Dito«, stieß sie hervor und lachte weiter.
»Und dennoch muss ich dir sagen, bist du einfach anbetungswürdig.«
Sie lachte noch immer, bis sich Leo wieder zu ihr herabbeugte und ihr Gelächter mit einem leidenschaftlichen Kuss erstickte. Alisa erwiderte den Kuss nicht minder stürmisch. Sie umklammerten sich gegenseitig und pressten ihre Körper aneinander, über die der kalte Fahrtwind hinwegbrauste.
Als sie nicht mehr konnten, legten sie sich nebeneinander, die Hände fest verschränkt, und sahen in den Sternenhimmel. Der Mond stieg über ihre Köpfe hinweg und senkte sich dann gen Westen, um hinter den schroffen Berggipfeln zu versinken. Erst als das Schwarz bereits zu verblassen begann und ein Hauch von Rosa im Osten den neuen Tag ankündigte, erhoben sie sich und kletterten in den Gepäckwagen zurück, um in der Sicherheit ihrer Reisekisten den Tag zu überdauern.
V ERSCHWUNDEN
Sie sprachen nicht mehr von dem Vorfall. Der Brief, den Clarissa ihm gegeben hatte, verschwand unter dem Kissen in Lucianos Sarg. Und noch andere Dinge blieben zwischen ihnen ungesagt.
Um sieben klopfte die Schneiderin am Wassertor an, um mit ihrem Lehrmädchen Maß für die bestellte Robe zu nehmen.
»Wie viele Kleider sollen es denn werden?«, erkundigte sich die Schneiderin.
»Was möchtest du?«, gab Luciano die Frage großzügig an Clarissa weiter.
»Du brauchst auf alle Fälle etwas fürs Theater und ein Ballkleid. Was möchtest du noch?«
Das Lehrmädchen breitete die Stoffproben, Spitzen und Borten, die sie mitgebracht hatte, auf einem Tisch im Salon aus. Clarissa stürzte sich mit einem Begeisterungsschrei auf die Auslage.
»Luciano, sieh nur diese feine Spitze und die Federn, sind sie nicht herrlich? Und dieser gelbe Taft! Meinst du nicht, er würde ganz wunderbar zu meinem Haar passen? Oder lieber dieser Stoff hier? Das ist Seide, nicht wahr? Oh schau nur, wie er im Kerzenschein schimmert und seine Farbe wechselt. Mal ist er mehr blau und dann wieder meergrün. Mit solch einem Kleid würde ich mich auf einem Ball wie eine Königin fühlen!«
»Ja, das ist alles sehr schön«, bestätigte Luciano ein wenig hilflos. »Such dir aus, was dir gefällt.«
Ein Lächeln umspielte die Lippen der Schneiderin, die aber professionell genug war, nicht zu deutlich zu zeigen, wie sehr sie sich auf den zu erwartenden Geldsegen freute. Verliebte junge Männer waren nach stolzen Vätern die besten Kunden – wenn sie über genug Geld verfügten. Für einen Moment huschte ein Schatten von Sorge über ihr Gesicht, doch sie verkniff sich die Frage, ob der junge Kavalier sich diese Kleider würde leisten können. Stattdessen bat sie Clarissa um einen Ort, wo sie ungestört maßnehmen konnten. Clarissa führte sie in eines der ungenutzten Gemächer und ließ sich aus ihrem Kleid helfen. Das Lehrmädchen legte das Maßband um ihre Taille, die Hüfte, um ihre Brust, Hals und Handgelenke, während die Schneiderin sie mit scharfem Blick beobachtete, die Maße ablas und notierte. Dann zeigte sie Clarissa einige Skizzen von Modellen, damit sie entscheiden konnte, wie die Kleider aussehen sollten.
»Darf ich mich kurz entschuldigen?«, fragte die Schneiderin schließlich. »Ich muss mit Ihrem Gatten etwas besprechen. »Federica wird Ihnen derweil beim Ankleiden helfen.«
Sie ging hinaus, vermutlich, um von Luciano eine Anzahlung für die Stoffe zu erbitten. Aber das kümmerte Clarissa nicht. Sie schlüpfte wieder in ihr Kleid und ließ sich von dem Mädchen die Bänder schnüren. Federica stand so dicht hinter ihr, dass ihr der warme Blutgeruch in die Nase stieg. Sie hatte solchen Durst! Gier wallte in ihr auf, und sie spürte, wie ihre spitzen Zähne sich weiter hervorschoben. Wie sollte sie ihrem Drang widerstehen? Sie drehte sich langsam um und sah dem Mädchen in die Augen. Federicas Blick wurde glasig. Die Bänder rutschten ihr aus den Händen.
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