Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Vampire. Vielleicht war es falsch von ihm gewesen, ihr gegenüber stets nur die Stärke und Unsterblichkeit der Vampire zu betonen. Dabei hatte er ihr lediglich ihre Unsicherheit nehmen und ihr zeigen wollen, wie schön das nächtliche Dasein eines Vampirs war. Aber es gab durchaus auch Gefahren, die einen Vampir vernichten konnten.
Der Gedanke trieb ihn an. Er durchkämmte noch einmal den ganzen Palazzo, um ihre Spur aufzunehmen.
Merkwürdig. Es gab Räume, in denen er ganz deutlich ihre Fährte wittern konnte, und dann war sie plötzlich weg. Ja, er konnte gar nichts mehr riechen, so sehr er sich auch bemühte. Nur dieser Reiz, zu niesen, stieg wieder in ihm hoch.
Egal.
Er musste sich drauf konzentrieren, durch welches Tor sie den Palast verlassen hatte. Zum Glück konnte sie sich nicht in eine Fledermaus wandeln und einfach davonfliegen. Zum ersten Mal war er froh, dass sie noch so wenig von der Magie der Vampire beherrschte.
Luciano ging zuerst zum Wassertor, obwohl es eher unwahrscheinlich war, dass sie dieses benutzt hatte. Er konnte nichts riechen, und auch die Gondel, die sie am Anleger von San Michele entwendet hatten, lag noch vertäut an den beiden Pfosten.
Gut, dann durch die Halle hinaus in den Garten. Aber auch hier konnte er ihre Spur nicht wittern. Er trat zum Tor, das auf die schmale Gasse hinausführte. Ganz schwach waren ihre Fußspuren wahrzunehmen. Zu schwach! Diese mussten von gestern Nacht stammen.
Luciano kehrte in den Palazzo zurück. Das war doch nicht möglich! Noch einmal suchte er alles ab, dann gab er ratlos auf. Er konnte sich einfach nicht erklären, wie sie das Haus verlassen hatte.
Was sollte er jetzt tun? Er konnte nicht einfach aufgeben und tatenlos warten, bis die Sonne aufging und sie vielleicht in tödliche Gefahr brachte. Luciano verließ den Palazzo durch das Landtor. Er zögerte kurz, dann folgte er dem Gassengewirr, das ihn bis zum südlichen Ufer führte. Auf der Fondamenta Zattere fand er wieder ihre alten Spuren, aber keinen Hinweis darauf, dass sich Clarissa in den vergangenen Stunden hier aufgehalten hätte. So erweiterte er seine Kreise, eilte an den Salzlagern und dem Zollhaus vorbei bis zur Punta della Dogana. Für einen Moment blieb er an der Landspitze stehen und sah über das Hafenbecken zum Dogenpalast hinüber, dann folgte er weiter dem Ufer des Canal Grande. Er warf sogar einen Blick in den ein wenig kitschigen Kuppelbau der Salute, doch was sollte Clarissa in einer Kirche wollen?
Würde sie eine Kirche überhaupt freiwillig betreten? Luciano war sich nicht sicher. Er eilte weiter, all seine Sinne auf die Duftspuren zu seinen Füßen gerichtet, überquerte zwei Kanäle und gelangte dann wieder in die schmale Gasse, von der aus man den Palazzo betreten konnte. Noch einmal kehrte er ins Haus zurück, kam der Lösung des Rätsels aber keinen Schritt näher. Also verließ er es wieder und wandte sich dieses Mal nach Westen. Er durchsuchte das Viertel Dorsoduro, betrat die neue Eisenbrücke, die bei der Akademie über den Canalazzo führte, und kehrte ohne Ergebnis wieder ans Ufer zurück. Er arbeitete sich durch die Gassen von San Polo, doch er fand keine Spur von Clarissa. Er hätte sich auch noch die Sestieri Santa Croce und – auf der anderen Seite der Rialtobrücke – San Marco vorgenommen, doch die nahende Sonne trieb ihn zurück. Er erreichte den Palazzo und schleppte sich zu seinem Sarg. Sein letzter Gedanke galt Clarissa.
Wo um alles in der Welt war sie? Und wie ging es ihr?
Der Schlaf brachte keine Antwort. Nur Vergessen bis zum nächsten Abend.
A UF DER S UCHE NACH C LARISSA
Wie Leo vorgeschlagen hatte, begannen sie ihre Suche auf der Piazza. Sie verließen das Vaporetto an der Molo vor der Piazzetta, nachdem Alisa die halbe Fahrt dazu genutzt hatte, den Schiffsführer über die technischen Details des Dampfschiffes auszufragen. Der antwortete erst höflich distanziert und dann zunehmend enthusiastisch, als er merkte, wie viel technischen Verstand die junge Dame aus Hamburg mitbrachte. Er lobte die kleinen Dampfer und erzählte auch vom erbitterten Widerstand der Gondolieri, als die ersten vor kaum einem Jahr in Betrieb genommen worden waren.
Amüsiert hörte Leo mit einem Ohr zu, während er die Palazzi betrachtete, an denen sie vorbeiglitten, und sie nach Spuren absuchte, die Hinweise darauf hätten geben können, dass vor Kurzem zwei junge Vampire dort eingezogen waren. Dass er nicht erfolgreich war, überraschte ihn nicht. Luciano
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