Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
und Clarissa waren sicher darauf bedacht, unauffällig zu bleiben und ihre Nachbarn nicht wissen zu lassen, wer Tür an Tür mit ihnen wohnte.
Nun strebten Alisa und Leo auf die Piazetta zu. Sie wollten gerade zwischen den beiden hohen Steinsäulen hindurchgehen, von denen eine mit einem geflügelten Löwen gekrönt war. Auf der anderen stand ein Mann, der ein Krokodil oder etwas Ähnliches in Schach hielt. Da griff eine ältere Frau nach Alisas Arm.
»Sie dürfen nicht zwischen den Säulen hindurchgehen«, zischte sie. »Das bringt Unglück, wissen Sie das nicht? Hier wurden früher die Missetäter hingerichtet, wenn man sie nicht in einem Käfig den Campanile hochzog, um sie dort verhungern zu lassen.« Sie grinste und ließ ihr lückenhaftes Gebiss sehen. »Unter den Augen des Volkes starben allerdings nur die normalen Diebe und Mörder. Wer in den Verdacht geriet, etwas gegen den Dogen oder die Republik im Schilde zu führen, der verschwand einfach auf nimmer Wiedersehen.«
Sie nickte in Richtung des mächtigen Palasts mit seiner so heiteren weiß und rosa gemusterten Marmorfassade, die sich auf luftigen Arkaden erhob.
»Im Dogenpalast?«, hakte Alisa nach.
Die Alte nickte. »Aber ja. Im Palast waren nicht nur die Gemächer des Dogen und die Versammlungsräume des Senats. Er war auch das Reich der Justiz und der Inquisition. Dort oben wurden Verdächtige gefoltert, wobei die Neuzugänge gezwungen wurden, zuzusehen. Das hat sicher so manche Zunge gelockert.«
»Sehr interessant«, sagte Leo und griff nach Alisas Arm. »Aber wir müssen jetzt weiter.«
Sie nickten der Frau zu und gingen dann weiter, bis sich der Markusplatz in seiner ganzen Pracht vor ihnen öffnete. Er war noch recht belebt und aus den Kaffeehäusern unter den Arkadengängen ertönte Musik, die sich zu einem Klangteppich mischte. Sie drängten sich zwischen den Menschen hindurch, aufmerksam die Sinne geschärft. Die beiden hatten den Platz schon fast umrundet, als Alisa abrupt stehen blieb.
»Er ist hier gewesen!«
Leo trat zu ihr und beugte sich weiter und weiter herab, bis auch er den feinen Duft am Fuß einer Säule wahrnahm. Ja, hier hatte Luciano eine Weile gestanden. Und dann?
Sie versuchten, der Spur zu folgen, doch es waren hier Tag und Nacht viel zu viele Menschen unterwegs, sodass Lucianos Duft im Wirrwarr der Gerüche verloren ging.
Alisa war nicht bereit, aufzugeben. Langsam setzten sie den Weg fort, bis sie am Ende der Arkaden den Torre dell’ Orologio, den Uhrenturm, erreichten. Für einen Moment war Alisa abgelenkt. Sie trat einige Schritte zurück und ließ den Blick bewundernd in die Höhe wandern: eine riesige Uhr mit tiefblauem Ziffernblatt, das neben den Stunden auch die Jahreszeiten und Mondphasen zeigte, darüber eine Madonna mit Kind, an der nun – als die beiden gigantischen Figuren auf dem Dach zur Mitternacht mit ihren Hämmern die Glocke schlugen – die heiligen Dreikönige vorbeizogen und sich ehrerbietig verbeugten.
Alisa stieg wieder der vertraute Duft in die Nase. Hatte Luciano auch an dieser Stelle gestanden und zum Uhrenturm hinaufgesehen? Oder spielte ihr Wunsch, ihn zu finden, ihren Sinnen einen Streich?
»Ich glaube, er kam die Straße runter durch das Tor unter dem Turm«, vermeldete Leo, und so folgten sie der Gasse mit ihren unzähligen, nun geschlossenen Läden, bis sie wieder auf den großen Kanal trafen, der hier von der ältesten Brücke überspannt wurde, die hinüber zum Rialtomarkt führte. Sie hatten Lucianos Spur nicht wieder aufnehmen können, dennoch überquerten sie die Brücke und setzten ihre Suche auf der anderen Seite in San Polo fort.
»Vielleicht sollten wir uns wirklich einen Palazzo nach dem anderen vornehmen«, schlug Alisa ein wenig resigniert vor.
Leo nickte. »Dann eben auf die harte Tour!«
Und so überprüften sie ein Haus nach dem anderen. Langsam arbeiteten sie sich, dem Canal Grande folgend, voran, der sich hier in einer weiten Schleife erst nach Westen und dann über Süden nach Osten wand, um schließlich im Markusbecken zu enden. Sie überquerten zwei schmale Kanäle und blieben dann stehen. Es war nicht leicht, im Gewirr der Gassen nicht die Richtung zu verlieren. Nur allzu oft endete eine Gasse in einem Hof oder an einem Kanal, und erst nach einiger Suche fand man einen der halb verborgenen Durchgänge, die einen zur nächsten Gasse weiterführten, von der aus sich unvermittelt ein weitläufiger Campo öffnen konnte.
Alisa und Leo traten auf den Platz
Weitere Kostenlose Bücher