Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
sich auch bemühte, er fand keinen annähernd frischen Geruch, der hier nicht hingehörte. Nein, Clarissa hatte das Haus allein und aus freien Stücken verlassen.
Warum? Und wie?
Er musste logisch vorgehen. Wenn sie also weder zu Fuß noch mit Flügeln noch schwimmend oder in der eigenen Gondel den Palazzo verlassen hatte, blieb nur ein fremdes Boot. Jemand musste sie abgeholt haben. Doch wie war es ihr gelungen, sich unbemerkt mit jemandem zu treffen und einen Fluchtplan zu schmieden?
Oder hatte sie einfach am Fenster einen Gondoliere herangewinkt und sich von ihm aufnehmen lassen?
Luciano eilte noch einmal zum Wassertor hinunter und beugte sich über die Stufen. Sorgfältig nahm er die Witterung auf, konnte aber keine Fährte finden, die frisch genug war, um von vergangener Nacht zu stammen.
Wie zum Teufel hatte sie das Haus verlassen?
Ratlos kehrte er in den Palazzo zurück und prüfte noch einmal alle Räume auf fremde Spuren, aber er fand nur ihre eigenen und in einem der Gemächer die der Schneiderin und ihres Lehrmädchens.
Da fiel ihm ein, dass sie morgen Nacht zur ersten Anprobe wiederkommen wollten. Vermutlich würde jedoch keine Klientin da sein, die sich erwartungsvoll ihre neuen Gewänder anpassen lassen wollte. Luciano schluckte.
Er stand mitten im Salon, wo die Schneiderin ihnen die Stoffe gezeigt hatte, die Spitzen und die Federn. Wo Clarissa strahlend geschwelgt hatte, während sie Stofffarben und Borten wählte.
Plötzlich stutzte Luciano. Er sog die Luft ein.
Er roch nichts.
Moment.
Das war nicht möglich.
Er trat an den Tisch. Ja, hier roch es nach Clarissa und den beiden Menschen.
Luciano wich wieder langsam zum Fenster zurück, wo Clarissa immer gestanden und auf den Kanal hinabgesehen hatte. Der Geruch verschwand. Stattdessen war da etwas Seltsames, das weder die Note eines Menschen noch die eines Vampirs in sich trug. Luciano musste husten und niesen.
Jetzt war es weg. Es hatte ihn an etwas erinnert, das schon mehrere Jahre zurücklag.
Er versuchte es noch einmal, doch er konnte nichts riechen. Nur dieser Drang, zu husten und zu niesen, quälte ihn wieder. Verflucht, was war das nur?
Ein metallisches Geräusch ertönte von unten und stieg dann wi e der Klang einer Glocke durch das Haus auf.
Luciano fuhr herum. Wer war das? Noch einmal erklang das Geräusch.
Da war jemand auf der Gasse und schlug mit dem bronzenen Klopfer gegen das Tor. War das etwa die Schneiderin? Kam sie bereits heute? Hatte er da etwas verwechselt? Doch warum legte sie nicht wieder am Wassertor an?
Luciano stemmte die Hände in die Hüften und stieg langsam die Treppe zum Hof hinunter. Es klopfte ein drittes Mal.
Er würde sie nicht hereinbitten. Sie würde später wiederkommen müssen. Viel später, wenn er Clarissa aufgespürt hatte.
Wie lange würde das dauern? Zwei, drei Nächte oder gar Wochen? Monate?
Würde er sie überhaupt jemals wiederfinden? Sie war noch so unerfahren. Was konnte ihr alles zustoßen.
Nein, daran durfte er nicht denken. Er würde sie aufspüren und zurückholen. Jetzt allerdings musste er erst einmal den lästigen Besuch abwimmeln. Mit finsterer Miene riss Luciano das Tor auf und erstarrte.
Das war nicht möglich. Seine Sinne narrten ihn. Er hatte daran gedacht, es sich gewünscht, doch das musste ein Trugbild sein.
Völlig verdattert stand er in der halb geöffneten Tür und blinzelte, um seinen Blick zu klären, doch die beiden Gestalten wollten nicht weichen. Und nun begannen sie auch noch zu sprechen.
»Kommen wir ungelegen?«, erkundigte sich die junge Dame, di e eher praktisch als elegant in ein dunkelblaues Reisekostüm gekleidet war. Ein kleines Hütchen thronte auf ihrem nachlässig zusammengesteckten blonden Haar. Hellblaue Augen strahlten ihn an.
Luciano öffnete tonlos den Mund und schloss ihn dann wieder.
»Es wäre höflich, uns hereinzubitten«, sagte der Mann an ihrer Seite. Er war groß, geradezu perfekt gebaut, und es war nicht übertrieben, ihn als makellos schön zu bezeichnen. Sein Haar, die Augen und die Brauen waren dunkel und betonten noch seine gleichmäßigen Züge mit der schimmernd weißen Haut.
Luciano regte sich nicht und schnappte noch immer nach Luft.
Der Mann, oder besser gesagt, der Vampir wandte sich an seine Begleiterin. »Ich glaube, wir können getrost davon ausgehen, dass wir nicht erwartet wurden.«
»Aber ich hoffe, wir sind dennoch willkommen«, fügte die Vampirin hinzu, trat einen Schritt vor und umarmte Luciano. Diese
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