Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
hinauf.
»Was ich hier will? Das ist doch eindeutig, oder? Ich fahre mit euch nach Venedig, um meinen Vetter Franz Leopold zu besuchen. Deshalb bin ich von Wien aufgebrochen. Und wenn er sich im Augenblick nicht in Hamburg aufhält, gut, dann fahre ich eben nach Venedig. Vielleicht ist das ja gar keine so schlechte Idee. In Wien ist es zu dieser Jahreszeit schrecklich öde, aber in Venedig hat mit dem Oktober bereits die Ballsaison begonnen. Ja, ich glaube gar, sie fangen jetzt, statt mit dem Weihnachtstag, bereits zu dieser Zeit mit dem Karnevalstreiben an.« Ihre Augen funkelten. »Maskenbälle in den prächtigen Palazzi des alten venezianischen Adels, das ist doch mal etwas anderes als immer die gleichen langweiligen Wiener.«
»Wir fahren nicht nach Venedig, um uns auf Maskenbällen zu amüsieren!«, ereiferte sich Tammo. »Es könnte sein, dass Luciano und Clarissa in Schwierigkeiten stecken.«
Anna Christina nickte. »Ja, ja, das kann ich mir gut vorstellen. Und Alisa und Leo eilen mit fliegenden Fahnen zu ihnen, um sie aus – was auch immer – herauszuhauen. Das wird langsam zu einer schlechten Angewohnheit. Ich rechne fest mit irgendwelchen haarsträubenden Schwierigkeiten, deshalb reise ich nur mit leichtem Gepäck.« Sie tippte mit der Schuhspitze gegen einen handlich kleinen Koffer, neben dem eine einfache Hutschachtel lag. Jetzt fiel Tammo auf, dass sie sich umgezogen hatte und nun ein schlichtes, nicht zu eng geschnürtes Kleid mit einem weiten Rock trug, in dem man notfalls auch laufen, springen oder kämpfen konnte. Der Rock fiel lediglich bis zu ihren Knöcheln herab und gab den Blick auf ihre Schnürstiefeletten frei. Sie dachte also offensichtlich nicht nur daran, Maskenbälle zu besuchen!
Anna Christina feixte. »Man kann das eine mit dem anderen verbinden. Alles zu seiner Zeit! Nichts ist schlimmer als der ewige Gleichklang der Langeweile.«
Und damit hatte sie auch beantwortet, warum sie sich nach Hamburg zu den von ihr nicht gerade hochgeachteten Vamalia aufgemacht hatte.
»Ich weiß zwar nicht, was uns erwartet«, sagte Hindrik und schloss mit einer kräftigen Bewegung die schwere Eisentür, »aber ich denke, langweilig wird es uns in Venedig nicht werden.«
»Das hoffe ich«, sagte Anna Christina, und zum ersten Mal spielte ein erwartungsvolles Lächeln um ihren Mund. In Tammo keimte der Verdacht auf, dass auch sie – trotz ihrer hochmütigen Reden – die Zeit der Akademie vermisste.
***
Es wurde dunkel in Venedig. Die Sonne verschwand, hinter dichten Regenwolken verborgen, am Horizont. Zwei Särge klappten auf, aus denen sich drei Vampire erhoben. Sie beschlossen, den verfluchten Palazzo die Nacht über zu beobachten. Irgendeinen Grund musste es schließlich geben, warum Clarissas Entführer so viel Wert darauf gelegt hatten, dass sie und Luciano den Palazzo wieder verließen. Sie hofften, dass die Entführer zurückkehren und ihnen die Möglichkeit geben würden, sie zu verfolgen. Noch hatten sie keine Spur, die sie zum Versteck der Entführer und zu Clarissa hätte führen können, und auch keine Idee, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollten. Also blieb der Palazzo Dario ihre einzige Hoffnung.
»Er ist wirklich verflucht«, murmelte Luciano, als er an das kleine Dachfenster trat und über den Kanal zum ummauerten Garten hinübersah. »Ich hätte die Warnungen ernst nehmen sollen. Zu viel Blut ist dort schon vergossen worden. Es hätte mich stutzig machen müssen, dass der Fluch noch in aller Munde ist, obgleich der letzte Besitzer schon seit Jahren keinen Fuß mehr über die Schwelle seines Hauses gesetzt hat.«
Alisa trat hinter ihn. »Ich denke, es kommt jemandem sehr gelegen, dieses Märchen vom verfluchten Palazzo aufrechtzuerhalten. In vielen alten Häusern ist im Laufe der Jahrhunderte Blut vergossen worden, gab es Unglücksfälle, Krankheit und Eifersuchtsdramen. Das ist bei Menschen völlig normal. Hier haben sie sich vielleicht ein wenig gehäuft, aber an einen Fluch, der auf dem Haus ruht, mag ich nicht glauben.«
»Du siehst doch, was geschehen ist!«, rief Luciano.
Leo trat zu den beiden und folgte ihrem Blick zu dem Palazzo hinüber, der sich still und verlassen im letzten Abendlicht erhob.
»Ich neige dazu, Alisa recht zu geben. Die Menschen sind schnell dabei, für unliebsame Ereignisse einen Schuldigen zu suchen. Sie sind abergläubisch, und so muss in diesem Fall eben der Fluch eines Hauses herhalten. Vielleicht hoffte der Kerl im schwarzen Domino,
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