Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
glatt rasiert war.
Er blickte in die Ferne, während die Gastgeberin von seiner neusten Oper schwärmte, den Parsifal, der erst im Juli im Festspielhaus in Bayreuth uraufgeführt worden war.
Alisa wurde kurz abgelenkt. Wieder war da das Gefühl, plötzlich nichts mehr riechen zu können. Sie fuhr herum und sah kurz in die Augen eines Mannes, der größer und breiter gebaut war als der, den sie vorher beobachtet hatten. Seine Aufmachung war aber dieselbe: von Kopf bis zu den blanken Schuhen war er in Schwarz gehüllt. Sie folgte seinem Blick zu ihrem Hals und lächelte spöttisch.
»Es lohnt die Mühe nicht«, formten ihre Lippen. Sie bemerkte, wie er kurz erstarrte. Sie hatte ihn irritiert, doch dann sah sie ihn unter der Halbmaske lächeln. Er tippte sich an den Dreispitz und setzte dann seine Suche nach lohnenderer Beute fort. Alisa folgte ihm mit ihrem Blick, während die Gastgeberin weitersprach.
»Wir werden die große Ehre haben, dass der Meister selbst uns einige Passagen daraus dirigiert«, kündigte sie enthusiastisch an. »Und es gibt noch eine Überraschung. Signore Wagner wird am Weihnachtsabend im Fenice ein Konzert für seine geliebte Gattin Cosima zum Geburtstag dirigieren. Seine Symphonie in C-D ur, und Sie, liebe Gäste, haben die Möglichkeit, dabei zu sein.«
In das beifällige Gemurmel und den Applaus mischte sich eine Stimme.
»Giorgia, meine Liebe, wo ist dein Armband? Und deine Kette?«
Alisa fuhr herum und sah den Mann an, der neben einer hübschen Brünetten stand, die ebenfalls merkwürdig abwesend wirkte. Ihre Finger glitten zu ihrem nackten Hals. Ihr Blick kehrte langsam aus der Ferne zurück und schärfte sich. Sie holte tief Luft.
»Ich weiß nicht. Oh Gott, ich muss sie verloren haben«, rief sie ein wenig hysterisch. Alisa sah, wie zwei andere Frauen geschockt nach ihren fehlenden Schmuckstücken tasteten.
»Jetzt geht der Tanz los«, raunte Leo und sah sich nach dem Mann in Schwarz um, den sie beobachtet hatten. Alisa suchte den zweiten.
Verflucht, sie waren zwischen den festlich gekleideten Menschen untergetaucht. Es gab zu viele schwarze Umhänge und Dreispitze in diesem Saal!
Da entdeckte Alisa den zweiten Gesuchten am Aufgang zur Treppe.
»Da ist er. Er will nach oben!«
Leo deutete auf den Treppenabgang in die Halle. »Der andere will nach unten! Los, folgen wir ihm.«
»Geh du ihm nach. Ich geh nach oben«, erwiderte Alisa und drängte sich zwischen den Ballgästen hindurch.
Ein lauter Aufschrei unterbrach die Rede der Gastgeberin. Alle drehten sich zu der dicken Frau im blauen Domino um, die das aussprach, was einigen der Damen gerade durch den verwirrten Sinn huschen mochte.
»Ich bin beraubt worden! Mein Schmuck ist verschwunden!«
In diesem Moment wurde es dunkel. Es war, als wirble eine Windböe durch den Palast. Noch einmal flackerten die Kerzen wild auf, dann erloschen sie mit einem Zischen. In den Sälen des Palazzo herrschte undurchdringliche Finsternis.
V ERFOLGUNGSJAGD
Tammo war stinksauer. In Gedanken verfluchte er seine Schwester und Leo und vor allem diese hochnäsige Zicke von einer Dracas, die ihn so eiskalt abgekanzelt hatte.
Nun gut, er hatte den Rat, sich für Donnerstagnacht einen anständigen Frack zu besorgen, großzügig überhört, aber so schlecht sah er gar nicht aus, und das war ganz sicher kein Grund, ihn von diesem Ball auszuschließen und hier draußen die halbe Nacht Wache schieben zu lassen, wo eh nichts passieren würde.
Nicht, dass er scharf darauf gewesen wäre, dort drinnen mit einer Dame Walzer zu tanzen oder irgendeinen anderen öden Tanz. Nein, das war nicht sein Ding. Mit Schaudern dachte er an die Tanzstunden im Palais Coburg in Wien zurück. Wie konnte man an so etwas Vergnügen finden? Er verstand Alisa in diesem Punkt nicht. Sie war ganz scharf darauf, zu tanzen, natürlich vor allem mit Leo. Gut, der Dracas hatte sich gemacht und war nicht mehr so widerlich wie zu Anfang – meistens jedenfalls – , aber so ganz konnte er ihre Wahl nicht nachvollziehen. Er hätte es lieber gesehen, wenn sie sich in Fernand verliebt hätte. Die Pyras waren einfach großartig, und ihn störte ihr schmuddeliges Aussehen nicht. Fernand und Joanne hätten an seiner Aufmachung jedenfalls nichts auszusetzen gehabt!
Das brachte ihn wieder zum Grund seines Ärgers zurück. Der Ball und die ganze reiche Adelsgesellschaft dort drinnen interessierten ihn nicht. Aber wenn diese Maskierten heute Nacht hier zuschlugen, dann wollte er dabei
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