Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
sein und sie jagen. Er würde sich nicht so leicht wie Alisa von einem einfachen Dieb abschütteln lassen, davon war er überzeugt. Seinen unrühmlichen Wandlungsversuch im Palazzo Dario verdrängte er lieber aus seinen Gedanken.
Zornig stapfte er vom Kai am Canal Grande über den Campo San Marcuola, passierte die unscheinbare Kirche und überquerte den gleichnamigen Kanal, doch statt sich den festlich gekleideten Menschen anzuschließen, die noch immer in den Hof des hell erleuchteten Palazzo Vendramin Calergi strömten, bog er links in die nächste Gasse ab und setzte seinen Kontrollgang fort.
Ganz wie Leo es ihm befohlen hatte.
Verflucht, was erdreistete sich der Dracas, ihm Befehle zu erteilen? Er war kein Kind mehr, das sich herumkommandieren ließ.
Nun ja, ehrlich gesagt, hatte er sich auch früher nicht herumkommandieren lassen. Ein Lächeln huschte über Tammos Gesicht, als ihm einige Vorkommnisse einfielen, bei denen er selbst Dame Elinas Geduld arg strapaziert hatte.
Er war so in seine Gedanken versunken, dass er die Gestalt fast nicht bemerkt hätte, die ihm aus einer Seitengasse mit bedächtigem Schritt entgegenkam. Es war etwas an ihrem zu unauffälligen Verhalten, das ihn stutzig machte. Sie trug einen jener langen, weiten Mäntel, die den Karneval hindurch alle Straßen und Plätze bevölkerten, und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
Auch das war an sich in einer windigen Nacht im Herbst nichts Besonderes. Aber ihr Schritt war so leicht und leise, dass Tammo aufhorchte. Er ließ seinen Blick unauffällig zu ihr hinüberhuschen. Für einen Mann war die Gestalt ein wenig klein. Doch was tat eine Frau um diese Zeit alleine in dieser Gasse? Wollte sie zum Ball? Er konnte keine Ballrobe unter dem Saum hervorlugen sehen, und dann war da noch der leise Tritt. Eine Dame in Ballschuhen müsste auf dem Pflaster von weit her zu hören sein! Es fehlte ihr auch die Zielstrebigkeit eines normalen Passanten. Die fließenden, eher langsamen Bewegungen waren dazu angetan, in den Schatten der Nacht übersehen zu werden. Also doch ein Mann, oder besser gesagt ein Larvalesto?
Tammo passierte die Einmündung der Gasse und tat so, als habe er nichts bemerkt. Dann huschte er um die nächste Häuserecke. Er reckte den Kopf und lugte hervor, um zu sehen, in welche Richtung die Gestalt weitergehen würde. Inzwischen war er überzeugt, dass es sich um einen dieser Larvalesti handelte. Er würde ihn verfolgen und sich nicht abschütteln lassen! Er war nicht Alisa. Er war zwar kleiner, aber flinker.
Die Gestalt bog in seine Gasse ab und kam ohne Eile näher. Tammo würde sie passieren lassen und sich dann an ihre Fersen heften. Sie konnte ihm nicht entgehen. Wenn er erst einmal die Witterung aufgenommen hatte, würde er wie der Wolf sein, der eine Beute bis in ihren Bau verfolgt.
Tammo sog die Luft ein, um den Geruch der Gestalt aufzunehmen, doch sofort bemerkte er seinen Fehler. Es kribbelte ganz fürchterlich in seiner Nase, und er roch einfach gar nichts mehr. Die normalen Düfte der nächtlichen Gasse schienen sich in Nichts aufgelöst zu haben.
Großer Fehler, ganz großer Fehler, Tammo, schimpfte er sich selber und steckte sich die Finger in die Nase, um nicht laut zu niesen. Jetzt hatte er im entscheidenden Moment vergessen, dass ja genau dies ihr Problem war. Unaufmerksam hatte er sich von seinen Instinkten leiten lassen, die sonst immer funktionierten. Hier war es eben anders. Vermutlich konnte er sich nun auch nicht mehr wandeln. Er würde es nicht ausprobieren! Doch was, wenn er die Gestalt aus den Augen verlieren würde? Wenn sie ihre Flügel ausbreitete und einfach über den Kanal sprang?
Er drückte sich in die dunkelste Ecke, als der Schemen bereits auftauchte und an ihm vorüberging.
Es war nicht die Zeit, abzuwägen und zu zaudern. In dem Augenblick, in dem sich der Entschluss in ihm formte, schnellte er auch schon vor, um ihn auszuführen. Er landete im Rücken des Vermummten, schlang seine Arme um ihn und riss ihn zu Boden.
Falls er auf eine Schrecksekunde des Angegriffenen gehofft hatte, wurde er enttäuscht. Die unter dem Mantel verborgene Gestalt reagierte geradezu übermenschlich schnell. Sie war nicht besonders stark und noch kleiner und zierlicher gebaut, als Tammo es erwartet hatte, doch sie wehrte sich mit all ihrer Verzweiflung und wand sich unter ihm wie ein glitschiger Aal, den er nicht recht zu fassen bekam. Er verhedderte sich im Stoff des Umhangs.
Verflucht!
Der Larvalesto
Weitere Kostenlose Bücher