Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
einmal über ihren Hals. Auf der linken Seite waren ganz deutlich die punktförmigen Wunden zu sehen, die seine Zähne hinterlassen hatten. Sie waren ganz frisch und nässten noch ein wenig, doch auf der anderen Seite ihres Halses sah er zwei weitere Punkte, die bereits eine Kruste verschloss.
Für einen Moment hatte Tammo die Vision von einem unbekannten Vampirclan, der hier in Venedig hauste, doch dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
Clarissa!
Konnte es sein, dass sich das Mädchen zu unvorsichtig dem Entführungsopfer genähert hatte?
Das war eine gute Nachricht. Es war endlich die Bestätigung, dass die Larvalesti sie entführt und nicht etwa vernichtet und im Kanal versenkt hatten, wie Luciano in seinen finsteren Momenten von Mutlosigkeit immer wieder vermutete. Es war auch die Bestätigung, dass sie sich gestärkt hatte und es ihr vermutlich – zumindest körperlich – gut ging und sie nur darauf wartete, endlich gefunden und befreit zu werden.
Was Tammo wieder zum eigentlichen Kern des Problems brachte. Wenn die Larvalesti keine Fährten zurückließen, denen man folgen konnte, musste einer der ihren die Vampire zu ihrem Versteck führen. Und dazu brauchte er das Mädchen. Lebend! Doch sie regte sich noch immer nicht.
Tammo seufzte. Wenn ihr Körper von zwei Bissen geschwächt war, würde es noch eine Weile dauern, bis sie wieder erwachte. So lange konnte er nicht hierbleiben. Wer konnte schon sagen, wann die Larvalesti dort drin fertig waren? Dann konnte alles sehr schnell gehen. Was, wenn sie ausgerechnet diese Gasse als Fluchtweg ausgewählt hatten und das Mädchen deshalb hier Wache stehen musste?
Nein, es war sicher keine gute Idee, abzuwarten, bis die Larvalesti vorbeikamen und ihm so die Antwort gaben. Bis dahin musste er sie von hier weggeschafft haben. Aber wohin?
Tammo hob das Mädchen hoch und richtete sich auf. Lautlos huschte er mit der leblosen Last in seinen Armen die Gasse entlang, eilte über die Brücke und an der Kirche vorbei zum Kai, wo jede Menge Gondeln vertäut lagen. Die meisten gehörten sicher den Adeligen der Stadt, die sich drinnen im Palazzo amüsierten. Zumindest noch.
Tammo sah in einiger Entfernung die Gondolieri in kleinen Gruppen sich die Beine in den Bauch stehen, solange sie von ihrer Herrschaft nicht gebraucht wurden. Sie rauchten und unterhielten sich und achteten nicht auf ihre Gondeln. Dennoch schlug Tammo einen Bogen über den Campo und suchte sich am anderen Ende ein etwas ärmlich wirkendes Boot, das keinem der Ballbesucher zu gehören schien. Sanft ließ er das Mädchen zu Boden gleiten, löste das Seil und ergriff den Riemen.
Dass es alles andere als einfach war, allein eine mehr als zehn Meter lange Gondel, am Heck stehend, mit einem Riemen anzutreiben und auch noch geradeaus zu fahren, erkannte Tammo schnell. Er bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten, und versuchte zu erkunden, wie tief er den Riemen eintauchen und in welcher Bahn er ihn bewegen musste.
So jedenfalls nicht!
Die Gondel schlingerte auf den Kanal hinaus. Schon wurden einige der Gondolieri am Ufer auf den ungeübten Ruderer aufmerksam. Sie deuteten auf das Wasser hinaus und lachten.
»Verfluchte Venezianer! Verfluchte Gondeln!«, knirschte Tammo und zog mit Schwung den Riemen durch, sodass das Gefährt durch das Wasser schoss, noch immer in leichten Schlangenlinien, aber wenigstens kamen sie voran. Die nächste Biegung des Canalazzo brachte sie endlich außer Sicht.
***
Der Rauch der erloschenen Kerzen stieg Alisa in die Nase. Sie hörte Frauen kreischen und Männer rufen. Es war so finster, dass die Menschen vermutlich nicht die Hand vor Augen sahen. Die Vampire jedoch konnten jeden von ihnen an ihrer warmen Aura erkennen, und es drang noch genug Sternenlicht von draußen herein, um Umrisse von Möbeln und anderen Gegenständen sehen zu können.
Alisa suchte den Larvalesto in der Menge. Er hatte dort drüben am Treppenaufgang gestanden. Und er stand noch dort. Ja, sie konnte ihn deutlich erkennen. Er verharrte auf der untersten Stufe. Sein Blick huschte umher, bis er an einer anderen Gestalt hängen blieb, die sich zielstrebig auf ihn zubewegte. Sie schienen einander anzusehen. Wie war das möglich? Ihre Aura verriet, dass es sich um Menschen handelte, aber wie konnten sie in der Dunkelheit sehen?
Menschen konnten auch nicht von Dach zu Dach über breite Gassen und Kanäle hinwegfliegen, erinnerte sie sich, während sie sich weiter ihren Weg auf ihn zubahnte.
Die
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