Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
durfte nicht schreien. Tammo musste ihn umdrehen und ruhigstellen. Dieses blöde Gezappel musste ein Ende haben!
Endlich gelang es ihm, den Körper zu fassen und auf die andere Seite zu werfen. Die Kapuze glitt zurück, und schon war Tammo über ihm, drückte die sich sträubenden Arme zu Boden und näherte sich dem maskierten Gesicht.
Er musste diesem Menschen, wie allen anderen, nur einen Wimpernschlag lang in die Augen starren und ihm ein wenig Blut rauben, und schon wäre er für eine Weile willenlos und würde jeden Widerstand aufgeben.
So hatte er es gelernt und so hatte es bisher auch funktioniert.
Er sah in das maskierte Gesicht. Zwei dunkle Augen funkelten ihn im Zorn an, doch er konnte keine Furcht erkennen. Langes schwarzes Haar löste sich zu einem üppigen Lockenkranz auf dem Pflaster. Selbst wenn er noch Zweifel gehabt hätte, hätten die wunderschön geschwungenen Lippen und die zarte, helle Haut sie ausgeräumt.
Ein Mädchen!
Sie verstand, sein Zaudern zu nützen. Es gelang ihr, eine Hand freizubekommen. Sie ballte die Faust und schlug ihm ins Gesicht.
He!
Sie hatte einen ganz ordentlichen Schlag. Das hätte er ihr gar nicht zugetraut. Noch immer zögerte Tammo und erwartete eigentlich, dass sie erneut zuschlagen würde, doch stattdessen fuhr ihre Hand zu ihrem Gürtel und umfasste den kleinen Beutel, den sie an der Hüfte trug. Gerade noch rechtzeitig erkannte Tammo ihre Absicht. Er kniff die Augen zu und hielt die Luft an, während er ihren Arm hart zur Seite schlug. Eine Wolke von feinem schwarzem Pulver stob auf.
»Jetzt ist es aber genug«, zischte Tammo, warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie und versenkte seine Zähne in ihrem Hals.
Er trank nicht viel, obwohl es ihn all seine Beherrschung kostete, sich wieder von ihr zu lösen. Ihr Blut schmeckte herrlich. Es prickelte auf seiner Zunge, war süß und hatte doch auch eine herbe Note, die er noch nie geschmeckt hatte. Es drängte ihn, sie bis auf den letzten Tropfen auszusaugen, doch er wollte sie auf keinen Fall töten. Er durfte sie nicht töten! Nicht nur, dass die Clans sich vor Jahren in Genf geeinigt hatten, keine Menschen mehr zu töten, um sich nicht immer wieder ihrer Verfolgung auszusetzen. Sie brauchten die Larvalesto lebend, denn nur so konnte sie die Vampire zu Clarissa führen. Und das würde sie! Dafür wollte Tammo sorgen, das schwor er sich. Dann mussten ihn die anderen in Zukunft mit mehr Respekt behandeln. Er fühlte sich ebenfalls erwachsen. Hatte nicht auch er in London am Ritual teilgenommen und durfte mit Erlaubnis der Clanführer auf die Jagd gehen? Also wurde es Zeit, dass die anderen ihn anerkannten und nicht immer wie ein lästiges Kind behandelten. Vor allem Alisa und Hindrik.
In seinen Gedanken bereits bei seinem Triumph, wenn er – ganz ohne die Hilfe der anderen – Clarissa in ihre Mitte zurückführen würde, löste er sich von dem Mädchen.
Er hatte vorgehabt, sie mit seinem Biss ruhigzustellen, sodass sie sich nicht länger wehrte und er sie unter dem Zwang seiner Gedanken zu Clarissas Versteck dirigieren konnte, während die anderen Larvalesti im Palazzo noch damit beschäftigt waren, die Ballgäste um ihren Schmuck zu erleichtern, doch nun lag sie mit geschlossenen Augen schlaff auf dem Pflaster und regte sich nicht mehr.
Hatte er ihr zu viel Blut geraubt? Hatte er so die Kontrolle verloren, ohne es zu merken?
Das war doch nicht möglich! Was aber war dann mit ihr los? Warum verlor sie wegen so ein wenig Blut gleich das Bewusstsein? Sie schien ihm nicht zu der Sorte von Frauen zu gehören, die wegen jeder Kleinigkeit in Ohnmacht fielen. Nicht nachdem sie sich so gewehrt hatte.
Was aber war dann geschehen?
Ratlos sah er auf die schlaffe Gestalt herab. Er löste die Maske und streifte sie ihr vom Gesicht.
Wie jung sie war und doch kein Kind mehr. Ihre Miene zeigte die Entschlossenheit eines Menschen, der schon viel erlebt hatte und der wusste, was er wollte. Wie sie gegen ihn gekämpft hatte, ließ ein Gefühl von Bewunderung in ihm aufsteigen. Eine richtige Wildkatze!
Wenn sie doch nur erwachen würde. Tammo beugte sich vor und legte sein Ohr an ihre Brust. Ihr Herz schlug unregelmäßig, der Puls war schwach. Er strich mit den Fingerspitzen über ihre Wangen, die so blass waren wie die eines Vampirs.
Was hatte er nur getan? Er wollte nicht, dass sie seinetwegen starb.
Da sah er es.
Tammo blinzelte verwirrt. War das möglich? Er kniff die Augen zusammen und beugte sich noch
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