Die Erben der Nacht - Pyras
besonders hohen Flut wieder einmal mit Wasser vollgelaufen, das nur zögerlich versickerte und schlammige Pfützen auf den Böden zurückließ. Richtig trocken wurden diese Quartiere nie.
»Die irischen Fischer und Pächter in den Mooren leben auch nicht in Müßiggang und Wohlstand«, entgegnete Alisa. »Ich habe in Irland allerorts in den Hütten bittere Armut entdeckt.«
»Das schon, doch nie habe ich so viele Menschen auf so engem Raum gesehen. Sie sind wie ein Käfig voller Ratten, wo es an jedem Fleck wuselt und quiekt und jeder nur damit beschäftigt ist, den nächsten Tag noch zu erleben.«
Alisa dachte darüber nach und betrat die Brücke, die zum Wandrahm hinüberführte, auf dem die Häuser - wenn überhaupt möglich
- noch dichter gedrängt standen. Die Vamalia war schon fast in der Mitte angelangt, als ihr auffiel, dass Ivy ihr nicht folgte. Sie stand zögernd auf der Brücke und starrte über das Geländer. Seymour war zwischen Alisa und Ivy und sah sie abwechselnd an, ehe er ein klagendes Jaulen ausstieß. Hindrik, der vorangegangen war, blieb in der Mitte der Brücke stehen und wandte sich, die Arme vor der Brust verschränkt, der Gruppe junger Vampire zu, die nun nach und nach die Brücke erreichten, aber keiner außer Tammo und Sören betrat sie.
»Was ist denn?«, rief Tammo den Pyras zu. »Kommt ihr jetzt weiter?«
»Sie können nicht!«, erklärte Alisa, die höchstens überrascht war, wie stark auf die anderen wirkte, was ihr kaum mehr als ein leichtes Ziehen im Magen verursachte.
»Was?« Tammo starrte seine Schwester verdutzt an.
»Ja, zur Hölle, das Wasser hält uns auf!«, schimpfte Joanne und zeigte ihre lückenhaften Zähne.
»Es ist wie verhext«, fiel Fernand ein. »Dabei können wir daheim die Seine zu jeder Zeit überqueren.« Tammo schien noch immer nicht zu begreifen.
»Die Gezeiten!«, rief seine Schwester ungeduldig. »Tammo, du musst es doch spüren, wenn du über die Brücken gehst. Der Vampir kann fließendes Wasser im Einfluss der Gezeiten nur während der einsetzenden Flut oder Ebbe überschreiten.«
Hindrik trat neben sie. »Das ist richtig. Das Wasser steht noch zu hoch. Die Flut wird erst in etwa zwei Stunden beginnen.«
»Deshalb zwickt es mich manches Mal so, wenn ich die Fleete überquere und andere Male nicht«, rief Tammo aus. »Ich habe nie darüber nachgedacht.«
Sie kehrten zu den anderen zurück, die am Ausgang der Brücke warteten. Nur Ivy und Malcolm hatten sich ein Stück weiter vorgewagt.
»Ihr müsstet bei der Themse in London den Gezeiteneinfluss eigentlich auch noch spüren«, sagte Ivy. Malcolm nickte.
»Ja, doch dort ist er viel schwächer. Manches Mal rollt eine Sturmflut
von der See herauf und staut den Fluss, dass er die niederen Stadtteile überflutet. Dann müssen auch wir auf den Wechsel warten, um die Brücken passieren zu können.«
Fernand kämpfte gegen den Schmerz, der ihn am Boden festzuhalten schien. »Das darf doch nicht wahr sein!«, stöhnte er. »Heißt das, wir können diese vermaledeite Insel nur vier Mal am Tag verlassen und wieder betreten - wobei zwei Gezeitenwechsel außerhalb der Nacht liegen und damit für uns ebenfalls entfallen.«
Anna Christina lehnte sich gegen das schmiedeeiserne Brückengeländer und verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum sollen wir uns überhaupt mit diesem Blödsinn befassen? In Wien haben wir weder ein Meer noch Gezeiten. Die Donaubrücken sind kein Hindernis für uns. Wozu also das ganze Theater?«
»Weil uns alles stärker macht, was uns Hindernisse aus dem Weg räumt. Wir können nicht wissen, wo es uns in unserem ewigen Dasein noch hinverschlägt und was uns dort erwartet. Ich will es jedenfalls nicht erleben, dass ein Gezeitenstrom, den ich auf der Flucht nicht überqueren kann, mein Schicksal besiegelt«, fuhr Franz Leopold seine Cousine an und schob sich ein Stück weiter auf die Brücke hinaus. »Los, Hindrik, zeig uns, wie es geht! Dazu sind wir doch hergekommen, nicht wahr?«
Hindrik legte die Hand an die Brust und verbeugte sich. »Es ist mir eine Ehre, Franz Leopold de Dracas, dir und den anderen das G eheimnis zu verraten und euch bei euren Übungen zu unterstützen.«
»Das will ich hoffen«, knurrte Franz Leopold, der sich vermutlich wie Alisa fragte, ob Hindrik ihn verspottete.
Und so begannen sie mit den Übungen. Tammo langweilte sich, da er nichts zu tun hatte. Auf die Idee, seine Freunde zu unterstützen, kam er anscheinend nicht. Sören half Mervyn, der
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