Die Erben der Nacht - Pyras
schnell begriff. Auch Ivy hatte die Brücke - wenn auch langsam und unter Schmerzen - bald passiert. Die meisten Schwierigkeiten hatten die Pyras und die Dracas. Luciano frohlockte, dass diesmal nicht die Nosferas die Verlierer waren. Eine Stunde später stand er auf der anderen Seite und grinste Alisa an.
»Ich will dich nicht entmutigen«, sagte sie und lächelte entschuldigend. »Aber die Zeit der wieder einsetzenden Flut ist bald gekommen und dann kann jeder Vampir das Wasser queren.«
»Ich habe es aber noch vor den Pyras und den Dracas geschafft«, protestierte Luciano, der sich seinen Sieg nicht nehmen lassen wollte.
Eine weitere halbe Stunde verging, ehe die Dracas auf der anderen Seite ankamen. Die Pyras folgten ihnen sichtlich entkräftet. Hindrik führte sie über die Wandrahminsel und dann auf die andere Seite über das Dovenfleet hinüber. Jetzt zur Gezeitenwende war es natürlich ganz einfach. Dennoch stand einigen die Anstrengung der ersten Brückenquerung noch ins Gesicht geschrieben. Zur Erholung schlenderten sie unter Hindriks Führung und Jacobs wachsamem Blick am Ufer entlang bis zum Nikolaifleet.
»Seht ihr, dort drüben in dem Haus, das mit seiner Rückseite an die Deichstraße stößt, begann das große Feuer, das im Jahr 1842 einen Großteil der Altstadt zerstörte. Vier Tage wüteten die Flammen. Am Ende hatte das Inferno die Stadt bis zum Jungfernstieg vernichtet und hinüber nach Osten bis zum alten Graben, wo heute der Bahnhof steht.«
»Das war sicher aufregend!«, rief Joanne, und ihre Augen glänzten.
Tammo nickte. »Ja, aber das war leider vor meiner Zeit. Berit, eine unserer Servientinnen, hat mir viel erzählt. Sie war mit den anderen in der Stadt unterwegs und hat gesehen, wie die Häuser um die Alster brannten und sich die Menschen mit ihren wenigen zusammengerafften Habseligkeiten in Boote retteten, doch ein Windstoß trieb Asche und Glut über das Wasser und setzte die Boote nacheinander in Brand. Und dann die Nikolaikirche. Das muss ein Anblick gewesen sein, als die Flammen an ihrem Turm hinaufleckten wie an einer Fackel, bis die Spitze schließlich herunterkrachte.«
Tammo schwärmte noch ein wenig von der Feuersbrunst, während sie langsam zur Brücke zurückschlenderten. Die Flut hatte längst wieder eingesetzt, und nun merkten einige, dass es rasch schwieriger wurde, die Kanäle und Flussarme zu passieren. Karl Philipp zuckte mit einem Aufstöhnen zurück. Anna Christina, die ihm gefolgt war, schrie vor Schmerz und taumelte in seine Arme.
»Eilt euch! Ihr habt noch die zweite Brücke bei St. Annen vor euch«, mahnte Hindrik.
»Was machen wir, wenn wir es nicht schaffen?«, fragte Joanne, die mit den meisten anderen Erben noch immer unverrichteter Dinge am Stadtufer stand. »Nach meiner Rechnung findet der nächste Wechsel bereits nach Sonnenaufgang statt.« Sie klang keinesfalls furchtsam. Eher interessiert.
»Das ist richtig«, bestätigte Hindrik. »Das sollte eure Anstrengungen verstärken.«
Sören packte Mervyn bei der Hand und lief mit ihm hinüber. Sie hielten nicht an, um zu sehen, wie es den anderen ging, sondern rannten über die Wandrahminsel bis auf die andere Seite und über die zweite Brücke. Erst hier blieben sie stehen. Alisa folgte mit Luciano und Ivy. Als sie merkte, dass Franz Leopold zurückblieb, zögerte sie. »Lauft ihr weiter. Ihr schafft es«, rief sie und kehrte um.
Hindrik und Jacob standen mit zufriedenen Mienen am Stadtufer und beobachteten ihre Schüler, die sich eifrig bemühten.
»Wie ich es gesagt habe«, sagte Jacob. »Die Aussicht, dass der zu erwartende Schmerz mit jeder Minute größer wird, stärkt den Antrieb, die Aufgabe zu bewältigen.«
Hindrik brummte nur und beobachtete die Dracas und Pyras, die der Aufgabe noch nicht gewachsen schienen. Joanne hatte es mit Tammos Hilfe über die erste Brücke geschafft und verschwand nun hinkend und schwer atmend mit ihm zwischen den Häusern, doch Fernand klammerte sich mitten auf der Brücke ans Geländer und bewegte in stummer Qual die Lippen. Anna Christina und Karl Philipp stützten einander, kamen aber kaum voran.
Alisa lief auf Franz Leopold zu und streckte ihm die Hand entgegen.
»Komm! Wir machen es wie bei den Wandlungen und verbinden unsere Kräfte.«
Für einen Augenblick blitzte wieder die alte Arroganz in seiner Miene auf, als überlegte er, das Angebot mit einem herablassenden Lächeln zurückzuweisen, doch dann nickte er und griff zu. Sie spürte seinen Geist
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