Die Erben der Nacht - Pyras
Verschwendung unserer Zeit. Wir sollten jede Nacht nutzen, etwas Sinnvolles zu lernen.«
Auch die anderen Erben redeten durcheinander, bis Dame Elina mit einer scharfen Zurechtweisung für Ruhe sorgte. »Da eure Sicherheit und eure Ausbildung an oberster Stelle stehen, habe ich schweren Herzens beschlossen, das Akademiejahr hier in Hamburg vorzeitig zu beenden, obwohl es gerade erst begonnen hat und ihr noch viel von uns lernen könnt.« Ihre Stimme klang ein wenig belegt und ihr Blick schweifte über die jetzt ernsten jungen Gesichter. »Ihr werdet noch heute Nacht abreisen. Hindrik und Marieke werden euch und eure Servienten zum Zug begleiten. Gerade sind meine Vettern Jacob und Reint am Bahnhof, um die Reiseformalitäten zu erledigen.«
»Oh nein!«, hauchte Alisa verzweifelt.
»Euer Jahr in Hamburg werden wir ein anderes Mal nachholen. Wer noch zu packen hat, der möge es jetzt tun, damit die Särge so bald wie möglich auf die Wagen verladen werden können. Ich weiß, es ist die richtige Entscheidung. Und da die Wahl vielleicht von Anfang an auf Paris hätte fallen sollen, habe ich Olaf geschickt, den Pyras eure Ankunft zu telegrafieren.« Die Worte schienen ihr nicht recht aus dem Mund kommen zu wollen. Sie sah ein wenig gequält
zu den Altehrwürdigen hinüber, die alles andere als begeistert wirkten. Auch Hindrik schien schwer an dieser Neuigkeit zu schlucken.
»Was?«, rief Alisa entgeistert. »Habe ich das richtig verstanden?«
»Ich denke schon«, stimmte ihr Ivy zu. »Wir fahren alle zusammen nach Paris. Das Akademiejahr wird bei den Pyras fortgesetzt.«
Tammo stieß ein Triumphgeheul aus und knuffte Joanne und Fernand. »Das wird großartig!« Die beiden Pyras grinsten.
»Ja, bei uns in Paris gibt es viel zu sehen - oder sollten wir besser sagen, bei uns unter Paris?«
Die Begeisterung der anderen Erben hielt sich in Grenzen. Einige, wie die Dracas, hatten wohl gehofft, nach Hause fahren zu dürfen, und auch Malcolm murmelte etwas von: »Was sollten wir dort lernen können?«
Franz Leopold kräuselte die Lippen und sah zu Ivy hinüber. »Und ich dachte schon, es könnte nicht noch schlimmer kommen.« Doch seine Stimme strafte die Worte Lügen.
PARIS
»Onkel Carmelo, kommst du? Wir fahren bald ab.« Latona griff nach dem Ärmel seines Mantels. »Der Schaffner hat gesagt, sie müssen nur noch den Wagen ankoppeln, der von Hamburg gekommen ist, dann geht es weiter. Wir sollten unsere Plätze aufsuchen.«
Ihr Onkel sah sie erst ein wenig verwirrt an, dann zeichnete sich Ärger in seiner Miene ab. »Latona, wo bleibt deine Erziehung? Wie kannst du einfach so in unser Gespräch platzen?«
Latona unterdrückte die schroffe Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, und knickste stattdessen mit einem falschen Lächeln vor dem anderen Herrn, mit dem sich ihr Onkel gerade so angeregt unterhalten hatte. Gerade? Seit einer Woche Tag und Nacht!
»Verzeihen Sie, Professor van Helsing, ich wollte nicht stören. Es wäre nur ungeschickt, wenn wir den Zug nach Paris verpassten.«
Van Helsing, dessen Erscheinung so gar nicht ihrer Vorstellung von einem alten Universitätsprofessor entsprechen wollte, sah das Mädchen mit diesem durchdringenden Blick an, der sie bis tief in die Seele zu durchleuchten schien. Obwohl Latona sich nun bereits eine Woche fast ständig in seiner Gegenwart befand, wusste sie nicht recht, was sie von ihm halten sollte. Im einen Augenblick fand sie ihn unangenehm, seine brennenden Augen und seine fast bedrohliche Präsenz nahezu unerträglich. Und doch ging auch eine solche Faszination von ihm aus, dass sie sich des Öfteren dabei ertappte, wie sie von einem ihrer Bücher aufsah und ihn anstarrte, als wollte sie nie wieder den Blick von ihm wenden. Er war kein junger Mann mehr - wie sollte er, bei den umfangreichen Studien, die er in seinem Leben schon betrieben hatte? Aber so alt war er auch noch nicht. Sie schätzte ihn etwa wie ihren Onkel ein, um die fünfzig Jahre vielleicht. Seine Gestalt war nur mittelgroß und eher sehnig zu nennen. Sein braunes Haar war kaum von Grau durchzogen und ein wenig zu
kurz, der Bart dafür zu üppig, um gepflegt zu sein. Van Helsings Anzüge waren alle zu weit geschnitten, um der gängigen Mode zu entsprechen, sein Spazierstock eher wuchtig als elegant. Er bevorzuge es, seine Bewegungsfreiheit nicht einschränken zu lassen, hatte er Latona bei einem Abendessen anvertraut, als sie sich eine spöttische Bemerkung nicht hatte verkneifen können. Seine
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