Die Erben der Nacht - Pyras
Gesichtshaut war grob und gerötet, vor allem die Nase, die von seiner Vorliebe für schwere Rotweine sprach, aber im Gegensatz zu Onkel Carmelos war sein Bauch flach, und er schien agil und kräftig zu sein und eine fast beängstigend rasche Reaktion zu haben. Davon hatte sie sich zwei Nächte zuvor überzeugen können, als sie spät in der Nacht von einem Restaurant zur Universität zurückkehrten. Ein Schatten oder eine Bewegung in der nebligen Trübe hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Blitzschnell fuhr der Professor herum, warf seinen Umhang ab und enthüllte, was in seinem plumpen Spazierstock alles steckte - eine silbrig schimmernde Degenklinge -, ehe Latona nur einmal blinzeln konnte. Da stand er, angespannt wie ein Panther vor dem Sprung, sein Blick huschte durch die Nacht. So unerwartet die Anspannung von ihm Besitz ergriffen hatte, so plötzlich ließ sie wieder von ihm ab. Mit einer lässigen Bewegung steckte er den Stockdegen wieder ein und setzte liebenswürdig lächelnd den Weg mit seinen Gästen fort.
»Falscher Alarm. Verzeihen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe. Man kann nicht vorsichtig genug sein.« Latona platzte fast vor Neugier, aber van Helsing war nichts zu entlocken, dabei hätte sie zu gerne gewusst, wovor er Angst hatte. Doch er wusste seine Geheimnisse zu wahren.
Van Helsing konnte sich eines Doktortitels in allen Disziplinen rühmen, die sich Latona vorstellen konnte: Medizin und Philosophie, Chemie und Anthropologie. Sie hatte in seinem mit Büchern und Manuskripten vollgestopften Studierzimmer die Titel seiner Arbeiten gelesen und nicht einmal diese verstanden. Und die meiste Zeit war ihr auch nicht klar, worüber die beiden Männer redeten - und das lag nicht nur daran, dass sie sie stets an das andere Ende des Zimmers verfrachteten, sie mit einem Stapel Lesestoff versorgten
und ihre Stimmen fast zu einem Flüstern senkten. Einmal hatte sie ihn gefragt, ob er ein Vampirjäger sei. Professor van Helsing hatte das Mädchen verblüfft angesehen und dann herzlich gelacht.
»Die Jugend ist so erfrischend direkt«, war die einzige, unbefriedigende Antwort gewesen, die sie erhalten hatte.
Nun war ihre Zeit in Amsterdam zu Ende. Latona konnte das Pfeifen der Lokomotive hören, das die Fahrgäste aufforderte, ihre Plätze einzunehmen. Sie wusste nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Sie wurde einfach nicht aus van Helsing schlau. Außerdem zog er die gesamte Aufmerksamkeit ihres Onkels auf sich und brachte dieses gefährliche Glitzern von einst in seine Augen zurück, das Latona mit einer seltsamen Unruhe erfüllte. Ging hier irgendetwas vor sich, das ihr Onkel ihr verheimlichte? Auf ihre Frage hin wiegelte er natürlich ab. Was sich junge Mädchen immer so einbildeten. Witterten überall Geheimnisse und Verschwörungen. Doch sein Lachen klang nicht echt in ihren Ohren, und sie nahm sich vor, wachsam zu sein.
So überwog die Erleichterung über ihre Abreise und mischte sich mit der Vorfreude auf ihr Ziel. Paris! Die große Stadt, die Schöne, die Stadt der Künstler, der Malerei und Literatur, die Stadt der Moderne, der Weltausstellungen und der prächtigen Häuser und Alleen, die Baron Haussmann wie Schneisen durch das alte Paris gezogen hatte. Das Paris der Wissenschaft und der Studien, der Studenten und der Grisetten. Aber auch das Paris der Revolution, dem Heer der Arbeiter und der Armen, deren leerer Bauch sie mehr als einmal auf die Straße getrieben hatte.
Van Helsing erhob sich und geleitete die beiden Reisenden zu ihrem Abteil. Höflich neigte er sich über Latonas Hand, die sich sehr erwachsen vorkam und vor dem Professor knickste.
»Mademoiselle, es war mir ein Vergnügen, Sie und Ihren Onkel zu Besuch zu haben.« Dann wandte er sich an Carmelo. »Lassen Sie von sich hören. Ich erwarte Ihre Briefe.«
Weiter sagte er nichts, aber Latona war es, als gäbe es etwas zwischen den Männern, woran beide in diesem Augenblick dachten, das sie sich aber scheuten auszusprechen. Noch einmal ließ die
Lokomotive einen schrillen Pfiff hören. Van Helsing verbeugte sich und verließ das Abteil. Kaum hatte er die Tür zugeschlagen und war auf dem Bahnsteig zurückgetreten, ruckte der Zug an und verließ in gemächlichem Tempo den Bahnhof. Erst als er die Stadt hinter sich gelassen hatte und der Schienenstrang zwischen flachen Wiesen und Weiden hindurchführte, nahm der Zug Fahrt auf und begann wieder, sein eintöniges Lied zu spielen.
»Onkel Carmelo?«, fragte Latona, als
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