Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
gleichzeitig elegante Brücke in der Nähe des Towers. Die Ingenieure wollen sich und aller Welt beweisen, was sie können. Sie haben sich nicht einmal gescheut, einen Tunnel unter der Themse durchzugraben. Weiter oben in den Docks. Ich kann mich noch genau erinnern, wie sie im Jahr nach meiner Wandlung damit begannen. Ab und zu brach Wasser ein und einige der Arbeiter sind ertrunken. Dann hatten sie mit der faulen Luft dort unten zu kämpfen, die ein Fieber ausbrechen ließ. Und als sie es fast zwanzig Jahre später endlich geschafft hatten, wollte keiner den Tunnel benutzen. Den Menschen ist es unheimlich, zu Fuß unter Vater Themse hindurchzuspazieren. Vielleicht schicken sie nun bald ihre Züge stattdessen unter dem Wasser hindurch. Man ist ja eifrig dabei, mit den Underground- Zügen die ganze Stadt zu unterhöhlen. Das soll das Mittel der Zukunft sein, um die Menschen zu ihrer Arbeit und wieder nach Hause zu bringen. Dabei ersticken sie bei jeder Fahrt beinahe am Rauch der Dampflock, der bei der Fahrt nach hinten gepresst wird. Ich habe es mir selbst einmal angesehen, als die erste Strecke vor ungefähr zwanzig Jahren zwischen Paddington und Farringdon eröffnet wurde, und ich kann Ihnen sagen, mein Fräulein, ich war froh, dass ich nicht mehr atmen muss.« Er schüttelte in Erinnerung an das Erlebnis den Kopf. » Nein, das ist nichts für mich. Ein Dampfross in endlosen Tunneln. Sie täten besser daran, über Tage bei den bewährten Pferdeomnibussen zu bleiben. Wir haben damals höchstens einige unserer Reit- und Kutschpferde in Gewölben unterhalb der Straße untergebracht, als der Platz in den begehrten Vierteln wie Marylebone oder Mayfair ein rares Gut wurde.«
So plauderte er zwanglos, während sie sich von der Themse abwanden und in die City spazierten. Clarissa sah staunend zu der aufragenden Kuppel von St. Paul’s auf, die nach dem großen Stadtbrand 1666 auf der Asche der alten Kathedrale errichtet worden war. Sie umrundeten den Bau in respektvollem Abstand und machten sich dann auf den Rückweg durch das Stadttor Newgate, über dem das berüchtigte Gefängnis aufragte, vorbei am Old Bailey, dem Strafgerichtshof, wo Tag für Tag die schlimmsten Verbrechen untersucht und die Täter ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden. So zumindest stellte es sich Clarissa vor, als sie sich über die Fleet Street dem Temple wieder näherten. Es waren bereits die frühen Morgenstunden, als sie die Tore durchschritten. Lord Byron verabschiedete sich von ihr mit einer Verbeugung und einem zarten Kuss auf ihren Handrücken.
» Es war mir ein Vergnügen«, versicherte er ihr. » Ich würde mich freuen, wenn wir uns morgen Abend wieder zu einem gemeinsamen Ausflug treffen könnten. Ich zeige Ihnen gerne noch mehr von Londons Licht- und Schattenseiten.«
» Das wäre ganz wunderbar«, erwiderte Clarissa ehrlich. » Dies ist die erste Nacht seit meiner Wandlung, in der ich mich fast lebendig fühle und nicht wie ein Dämon, der die Hülle, die ihm nicht gehört, verlassen sollte. Ich danke Ihnen von Herzen, Lord Byron.«
Er sah sie versonnen an. » Beinahe bin ich geneigt zu glauben, dass Sie noch ein schlagendes Herz in ihrer Brust tragen.«
Clarissa kehrte in die Kammer zurück, in der ihr Sarg mit denen einiger anderer Servienten stand, ohne sich nach Luciano und den anderen zu erkundigen. Sie wollte jetzt alleine sein mit ihren Gedanken.
*
» Wo kommst du denn her?«
Luciano stellte sich Ivy in den Weg, als er ihr am nächsten Abend im Hof vor der großen Halle über den Weg lief. » Du warst fast die ganze Nacht weg.«
» Das ist richtig«, bestätigte die Lycana, ohne seine erste Frage zu beantworten.
» Und wo warst du?«, bohrte er noch einmal nach. » Oder willst du mir zu verstehen geben, dass mich das nichts angeht?«
Ivy sah ihn missmutig an, dann aber lächelte sie leicht. » Eigentlich ja, aber du lässt dich nicht so leicht abschütteln, nicht wahr?«
Luciano verschränkte die Arme vor der Brust. » Nein! Also verrate es mir.«
Ivy zögerte noch einen Moment, dann gab sie nach. » Also gut. Ich habe Bram Stoker in seinem Haus in Chelsea besucht.«
Luciano sah sie verdutzt an. » Was? Warum das denn?«
Ivy hob die Schultern. » Einfach ein freundschaftlicher Besuch, weiter nichts.«
Luciano warf ihr einen Blick zu, der deutlich sagte, was er von dieser Behauptung hielt. Sie setzten ihren Weg gemeinsam fort und betraten kurz darauf die Halle. Ivy wechselte das Thema.
» Wo ist denn
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