Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
den Schmerz des Todes nicht mehr spürt.«
Lord Milton kniete sich nieder und strich mit dem Finger über den Halswirbel, der mit einer scharfen Schneide sauber abgetrennt worden war.
» Ihr fragt euch vielleicht, warum die Königin in einer solch rohen Kiste liegt. Man hatte schlichtweg vergessen, einen Sarg für sie bereitzustellen, und so machte man sich nach ihrer Enthauptung fieberhaft auf die Suche nach Ersatz.« Seine Hand strich an der Kante der Kiste entlang. » Diese Kiste war eigentlich dazu gedacht, Pfeile aufzubewahren. Doch dann räumte man sie rasch leer, und sie wurde zur letzten Ruhestätte von Königin Anne Boleyn.«
Während Lord Milton sich noch eine Weile mit dem Archäologen unterhielt, gingen die Erben im Hof umher und ließen den Blick den White Tower hinaufwandern, in dessen Verlies der Bruder der Königin gezwungen worden war, die unglaublichen Anschuldigungen zu gestehen. Luciano und Clarissa schlenderten einmal um die alte Festung, während Leo und Ivy in Richtung Bloody Tower verschwanden. Tammo und Fernand ärgerten die großen Raben, die sehr ungnädig darüber waren, aus ihrem Schlaf gerissen zu werden, und mit ihren scharfen Schnäbeln nach ihnen hackten. Zum Erstaunen der Vögel und auch zu Alisas Verwunderung wandelte sich Tammo in einen von ihnen und richtete noch mehr Verwirrung an, als er krächzend auf sie hinunterfuhr, dass sie in alle Richtungen davonstoben.
» Unglaublich!«, hauchte Alisa. » Der Kleine hat sich richtig gemacht. Ich hätte nicht gedacht, dass er so einen schweren Gestaltwechsel hinbekommt.«
» Er ist halt ein echter Vamalia«, fügte Malcolm mit einem schelmischen Lächeln hinzu.
Alisa nickte geschmeichelt und duckte sich, als zwei der Raben kreischend herabgestürzt kamen und dann um die Ecke des White Tower verschwanden.
» Na, hoffentlich vertreibt Tammo die Raben nicht endgültig. Dann müsste er sich ja am Untergang Englands schuldig fühlen.« Alisa sah Malcolm fragend an. Der grinste breit.
» Dieser Aberglaube geht auf eine uralte Prophezeiung zurück, die besagt, sollten die Raben aus dem Tower verschwinden, würden seine Mauern und das ganze Königreich fallen. Kein Monarch der vergangenen Jahrhunderte wollte das Risiko auf sich nehmen, zu überprüfen, ob an dieser Vorhersage etwas dran ist, und so werden die Raben bis heute gehegt und gepflegt.«
Alisa lachte. » Dann versuche ich lieber mal,Tammo wieder zur Vernunft zu bringen. Wir wollen ja nicht, dass ein Krieg zwischen Vyrad und Vamalia ausbricht, weil wir eure heiligen Raben gestört haben.«
Sie wandelte sich genauso problemlos zu einem der schwarz gefiederten Vögel und stob unter Malcolms neidischem Blick davon.
Mit blanken Fäusten
Auf den Besuch im Tower folgten ein paar tödlich langweilige Nächte. Jedenfalls fanden das Tammo und Fernand. Das Urteil anderer fiel weniger harsch aus, Alisa fand es sogar interessant. Lady Margaret versorgte die Erben mit Recherchearbeiten zu alten Fällen, die sie in der Bibliothek des Temple Inn Court nachschlagen mussten, doch im Gegensatz zu ihrem ersten Fall erforderten sie keinen Einsatz in den Straßen von London, was der Grund für Tammos und Fernands Unmut war. In alten Akten zu wühlen, war nicht ihr Ding.
Zum Glück wurde dieses Programm stets zwei Stunden nach Mitternacht beendet. Die Erben kehrten in die Halle zurück und bekamen jeder einen Vyrad zur Seite gestellt, der ihre bislang kläglichen Versuche, der Todesstarre zu entgehen, zu mehr Erfolg führen sollte. Die meisten Erben stellten sich deutlich geschickter an, wenn es darum ging, sich in Nebel zu verwandeln, und einigen gelang es bereits ohne Hilfe eines Vyrad, einfache Gitter zu überwinden– wenn es keinen Luftzug von der anderen Seite gab, der den mühsam gerufenen Nebel in die falsche Richtung trieb! Dass es auch hierfür meist eine Lösung gab, versuchte Malcolm gerade Alisa und Tammo beizubringen. Fernand musste zuerst noch schaffen, seinen Körper vollständig aufzulösen– bisher blieb er stets im Gitter hängen, obgleich man seine Konturen kaum mehr erkennen konnte. Er schimpfte und fluchte, aber immerhin übte er tapfer weiter.
Bei Marie Luise hing der Erfolg ihrer Bemühungen von ihrer Laune ab. Oder besser gesagt davon, ob sie überhaupt bereit war, sich so weit herabzulassen, dass sie sich bemühte. In manchen Nächten war sie ganz gut, dann wieder tat sich gar nichts, und nicht selten segelte sie beleidigt davon, um die Nacht mit etwas anderem zu
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