Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
trocken.
Fernand und Tammo tauschten Blicke, dann grinsten sie. » Ah, und nun folgt die Strafe. Ich könnte nicht sagen, dass sie mir leidtut«, fügte Tammo hinzu. Alisa unterbrach ihn, denn der Mann, den Marie Luise entdeckt hatte, trat auf sie zu.
» Kann ich Ihnen behilflich sein oder suchen Sie nur einen Ort zur stillen Einkehr zu dieser späten Stunde?«
Es klang ein wenig vorwurfsvoll und war vielleicht als Rüge für ihre laute Auseinandersetzung in der Kirche gemeint.
Alisa knickste und lächelte den Alten an. Wie ein Pfarrer sah er nicht aus. Vielleicht auch nur ein Besucher?
» Entschuldigen Sie, wenn wir Sie in Ihren Gedanken gestört haben. Das wollten wir nicht. Ich weiß nicht, ob Sie uns helfen können. Kommen Sie öfter hierher?«
Er schmunzelte. » So könnte man sagen. Ich bin Küster hier in St. Dunstan.«
Alisa strahlte. » Das trifft sich gut. Darf ich fragen, wie lange schon?«
Der alte Mann überlegte. » Es müssen schon mehr als fünfzig Jahre sein. Ja, ich war schon Küster hier, als die alte Kirche noch stand. Ich habe gesehen, wie sie 1831 abgerissen wurde, um der breiteren Straße zu weichen. Und das, wo St. Dunstan so knapp dem großen Feuer von 1666 entgangen ist! Der Dekan von Westminster hat mitten in der Nacht vierzig Schüler von Westminster School aus dem Schlaf gerissen, um eine Feuerbrigade zu bilden. Nur mit Wassereimern ausgerüstet, gelang es ihnen, das Vorrücken der Flammen aufzuhalten und die Kirche– die vermutlich der heilige Dunstan selbst hier an dieser Stelle gegründet hat– zu retten. Und dann kommen sie und reißen sie nieder, um eine Straße zu verbreitern!«
Es war für die Erben eine unwillkommene Überraschung, zu hören, dass diese Kirche 1801 noch gar nicht gestanden hatte. Immerhin konnte sich der Küster noch an den alten Bau erinnern und vielleicht auch daran, was damals vor seiner Zeit hier vorgefallen war. Aber wie konnten sie ihn unauffällig in die gewünschte Richtung lenken? Oder sollten sie ihn einfach fragen, worüber sich die Gemeinde im Jahr 1801 so bitterlich beklagt hatte, dass der Referend die Polizei einschaltete? Vermutlich war es besser, ihn sanft bis zum Kern der Sache zu geleiten.
» Aus Ihren Worten entnehme ich, dass Sie sich intensiv mit der langen Geschichte dieser Kirche beschäftigt haben«, begann Alisa und lächelte den Küster aufmunternd an. » Da haben Sie sicher viele interessante Dinge zu erzählen!«
Sie spürte, wie geschmeichelt sich der alte Mann fühlte. In diesen Zeiten, in denen die Menschen zunehmend den Glauben verloren, stieß er vermutlich meist auf Ablehnung oder zumindest auf Desinteresse. Die Menschen wandten sich der Partei der Nonkonformisten zu und Darwins Evolutionstheorie.
» Ja, ich habe viel in den alten Aufzeichnungen und der frühen Chronik der Kirche gelesen und selbst an einer Fortführung gearbeitet«, sagte er mit Stolz.
» Im fünfzehnten Jahrhundert wurde St. Dunstan Zunftkirche für die Worshipful Company of Cordwainers. Das ist ein alter Begriff für das Handwerk feiner Lederarbeiten, beispielsweise der Handschuhmacher, die weiches, weißes Ziegenleder verarbeiteten, aber auch die Schuhmacher gehören zu den Cordwainers.«
» Wie interessant«, sagte Alisa und überlegte, wie sie ihn weiter in die richtige Richtung lenken konnte, als Tammo sich einmischte.
» Und wissen Sie auch, warum im Jahr 1801 der damalige Referend zur Polizei ging?«
Alisa unterdrückte ein Stöhnen. So viel zu sanfter Diplomatie. Sie warf ihrem Bruder einen wütenden Blick zu, der jedoch blickte erwartungsvoll auf den Küster. Der Alte legte die Stirn in Falten.
» Das muss in der Zeit von Referend Stillingsport gewesen sein.«
» Genau«, rief Tammo und warf Alisa einen triumphierenden Blick zu. » Erinnern Sie sich, was damals geschah?«
» Nun, so alt bin ich auch wieder nicht, dass ich das miterlebt hätte«, erwiderte der Küster mit einem Lachen, » aber ich weiß, dass es einen ziemlichen Aufruhr in der Gemeinde gab.«
» Warum?«, drängte nun auch Fernand.
» Des störenden Leichengeruchs wegen.« Die jungen Vampire tauschten Blicke. Jetzt wurde es interessant.
» Nicht, dass das in Kirchen etwas Ungewöhnliches wäre«, fuhr der Küster fort. » Doch seit man in den Grüften unter den Kirchen nur noch selten jemand beisetzte und die meisten kleineren Kirchhöfe geschlossen worden waren, wurde die Luft in den Londoner Kirchen deutlich besser. Gerade deshalb fiel den Kirchgängern der
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