Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
aufgeklärt, ja, nicht einmal die Identität des Toten ermittelt. Er wurde als ein Unbekannter auf dem Friedhof an der Ecke der Drury Lane zur Russel Street begraben. Bisher können wir nur Vermutungen anstellen. Vielleicht war er der eifersüchtige Ehemann einer Schauspielerin– oder ihr Liebhaber, der dann von ihrem Gatten erstochen wurde.« Sie verstummte und hob die Schultern.
Lady Margaret und Lord Milton nickten und forderten Chiara auf, fortzufahren.
» Der zweite Fall liegt lange zurück. Das Theater ist schon sehr alt. Zumindest gab es an diesem Ort seit 1663 ein Schauspielhaus. Siebzig Jahre später ereignete sich ein Todesfall, der vielleicht unseren Geist hervorgebracht hat.«
Luciano sah, wie sich Joanne und Maurizio zuzwinkerten und Mühe hatten, ihr Lachen zu unterdrücken. Selbst Sören schmunzelte, als Chiara fortfuhr.
» Es gab in diesen Jahren zwei außergewöhnliche Schauspieler im Theater in der Drury Lane : den cholerischen Charles Macklin und seinen jüngeren Kollegen Thomas Hallam. Die beiden buhlten um die Gunst des Publikums und betrachteten einander mit wachsendem Neid und Missgunst. Eines Tages gerieten sie über eine Perücke in Streit, auf die sie beide Anspruch erhoben. Hallam lenkte zwar ein und überließ Macklin das begehrte Haarteil, der aber hatte sich bereits derart in seinen Zorn hineingesteigert, dass er Hallam mehrmals gegen die Brust stieß. Als es dem zu bunt wurde und er sich wehrte, griff Macklin nach seinem Spazierstock und stieß zu. Er stach ihm das Auge aus. Ja, die Verletzung war so tief, dass Hallam am folgenden Tag starb. Macklin wurde des Totschlags für schuldig befunden und hätte dafür gebrandmarkt werden müssen, doch er bestach den Scharfrichter, ein kaltes Eisen zu benutzen, und so war ihm noch ein langes, ungezeichnetes Bühnenleben beschert. Einhundertsieben Jahre alt soll Macklin geworden sein.«
» Und ihr glaubt, sein Opfer Hallam spukt seitdem im Theater?«, erkundigte sich Alisa ein wenig ungläubig.
Chiara hob die Achseln. » Wenn man an Geistererscheinungen glaubt, ja, dann würde ich es für möglich halten. Er wird wohl erzürnt sein, dass sein Konkurrent mit dieser Tat straflos davonkam und noch jahrelang alleine den Ruhm einheimste.«
» Und das alles wegen einer Perücke!«, schnaubte Tammo.
» Oder unser Unbekannter hat die ganzen Jahre über gespukt, um auf das Verbrechen aufmerksam zu machen, das an ihm begangen wurde. Vielleicht wollte er, dass man seinen Körper findet, um ihn anständig begraben zu lassen«, schlug Joanne vor.
Der Lord und die Lady erhoben sich. Sie lobten die Erben für die vielen Hinweise, die sie bereits in der ersten Nacht herausgefunden hatten, wiesen sie aber noch einmal darauf hin, wie wichtig es war, sich nicht nur auf die Aussagen der Befragten zu verlassen, sondern die Fakten zu überprüfen.
» Ihr werdet bei anderen Fällen noch merken, wie schnell es zu Fehlurteilen kommt, wenn man nicht sorgfältig vorgeht«, betonte Lord Milton.
» Der Weg der englischen Justiz ist gepflastert mit solchen Fehlurteilen und dem Blut und Leid der unschuldig Verurteilten. Schon lange ertönt die Forderung nach einem Gericht, das zweifelhafte Fälle wieder aufnehmen und Fehlurteile berichtigen kann, einem Court of Appeal. Doch das wird wohl noch einige Jahre dauern. Bis dahin besteht für einen unschuldig Verurteilten nach wie vor die einzige Chance darin, eine Begnadigung der Queen zu erlangen.«
Mit diesen Worten entließen die Vyrad ihre Schützlinge für diese Nacht, um sich bis zum Morgengrauen weiter mit ihrem Fall zu beschäftigen oder sich ihrer ersten Übungsstunde bei einem der Vyrad zu unterziehen. Sogleich trat Leo auf Lady Margaret zu und bat mit einer Verbeugung höflich um Unterrichtung in der Fähigkeit, die Rowena ungehindert Zutritt in das Gefängnisgebäude ermöglicht hatte. Alisa reckte den Hals und versuchte aus seinen Worten herauszuhören, um was es sich handeln könnte, doch Leo verstand es, sich so vorsichtig auszudrücken, dass sie nachher nicht schlauer war. Den Versuch, in seine Gedanken einzudringen, unterließ sie lieber. Er war nicht so nachlässig wie sie und würde sie sicher sofort abblocken. Und allein der Gedanke, wie er auf diesen Angriff reagieren könnte, ließ sie sofort davon Abstand nehmen. So wandte sie sich rasch ab und gesellte sich zu Malcolm. Sie schenkte ihm ein betont herzliches Lächeln.
» Zu schade, dass wir nicht wissen, worum es sich handelt. Dabei wäre das so
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